Sonntag, 21. Oktober 2007

Schlagzeilen, samstags

zeitungsrolleEs war ein langer, kalter Herbst, der einen strengen Winter erahnen ließ, mit winzigkleinen Eiszapfen an den schwarz-verklebten Wimpern, die den Frost wegklimperten, der beißend an ihren Pupillen haftete. Es roch nach Schnee, als sie an diesem Samstag Abend durch die enge Straße schritt, den Schal mehrfach um den Hals geschlungen, die Haare unter der Kapuze vergraben, die Hände wohlig in den weiten Manteltaschen versenkt. Ihre festen Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wie ein blechernes Echo, als sie vorwärts hastete, es war zu kalt zum Schlendern, und in den Schaufenstern gab’s nichts Neues, denn die Stadt war leer.

Die Tür zum Kiosk um die Ecke quietschte und übertönte das zarte Glockenspiel, das ihre Ankunft ankündigen sollte. Als sie eintrat, spürte sie die beißende Hitze, die den kleinen Raum flirren ließ, der Ofen in der Ecke lief auf Hochtouren, und sie zog die Kapuze von ihrem Kopf und schüttelte das Haar wie einen lästigen Gedanken ab.
„Wie immer?“ fragte der bärtige Zeitungsmann, dessen Namen sie noch nie gewusst hatte, der ihr aber jeden Samstag Abend wortlos die richtige Zeitung reichte, und sie nickte, lächelte und legte die abgezählten Münzen in seine verlebte Hand.

Es war Samstag Abend, einer von vielen, einer von 52, und wie jede Woche verbrachte sie ihn mit Druckerschwärze und Druck im Herzen. Wenn sie nervös war, knetete sie ihre Oberlippe zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, so auch an diesem Samstag Abend, dabei war sie nicht nervös, nur unruhig, aber das war sie immer, stets ein bisschen zu hektisch, stets versucht, einen Schritt schneller zu sein als andere, als sie selbst, deshalb strauchelte sie so oft, vor allem am Samstag Abend.

Zurück in ihrer Wohnung zog sie den klammen Mantel aus, streifte die Schuhe ab und setzte sich auf die Couch, und wie jeden Samstag legte sie die druckfrische Zeitung wie einen kostbaren Schatz in ihren Schoss. Sie blätterte langsam, von hinten nach vorne, Seite für Seite, ohne Buchstaben aneinander zu reihen, Silben zu erfassen, Wörter zu lesen. Es war das Rascheln und Rauschen, der Geruch des Papiers, der Genuss der Dünnblättrigkeit, es waren nicht die Schlagzeilen, Schläge zu zeigen hatte sie selbst genug in ihrer Dünnhäutigkeit. Jeden Samstag Abend, 52 an der Zahl, blätterte sie sich durch den Abend und inhalierte Papier, bis sie fertig war und die Seiten durchscheinend-blass zwischen ihren Fingern vergilbten.

Sie zündete am Samstag Abend nie eine Kerze an, um warmes Licht um sich zu haben, die gedimmte Stehlampe genügte ihr, sie zündete den roten Wachsstumpfen auf dem holzigen Tisch nur an, um zu verbrennen. Jeden Samstag Abend faltete sie aus einem der zerflädderten Zeitungsblätter einen Schwan, nur einen, obwohl Schwäne ein Leben lang zu zweit bleiben, aber sie faltete immer nur einen, und den verbrannte sie dann in der kleinen Flamme, die nur minutenlang leuchtete und danach eine Woche warten musste, bis sie am nächsten Samstag Abend wieder verbrennen durfte. Danach lehnte sie sich erschöpft in die großen Kissen zurück, bettete sich auf das raschelnde Papier, schloss die Augen und wartete mit Druckerschwärze in der Nase auf den Traum.

Es war ein Tag am Strand, am Ufer eines Sees, mit bauschigem Gras und hohem Farn, irgendwo im Norden, wo selbst im Hochsommer eine kühle Brise weht und Gänsehaut aufkommt. Die karierte Decke lag ganz nah am Wasser, sodass die Wellen in ihren Ohren brachen. Sie sprachen wenig, verloren sich lieber im Horizont, nur manchmal sahen sie sich an unter trägen Wimpern, und dann kam ein Lächeln hoch, das süß durch die Kehle rann und aus den Lippen perlte, aus beiden. Als es später wurde, lagen sie noch immer auf der Decke, sie stützte sich träge auf ihrem Arm ab, er kaute nachdenklich an einem Grashalm. „Das ist ganz nah dran am Paradies“, sagte er und lächelte nicht, sondern starrte nach oben, wo eine Wolke in Form eines Vogels vorbeizog. „Was ist denn das Paradies?“, fragte sie, aber er antwortete nicht, er hatte die Augen geschlossen, also tat sie es ihm nach und lag still da, neben ihm, ohne ihn zu berühren. Stunden später erwachte sie, es war dämmerig geworden und sie hatte Gänsehaut an den Oberarmen. Als sie sich aufrichtete, sah sie einen weißhaarigen Mann vor der Decke stehen, der sich an einem Stock abstützte und auf sie beide herablächelte. „Im Schlaf umarmen sich Seelen“, murmelte er, nickte sich selbst zu und ging langsam weiter. Sein Stock hinterließ eine kringelige Spur in der Wiese, und als sie neben sich sah, war niemand mehr da, nur ein Schwan tauchte irgendwo in der Ferne ins Wasser ab.

Als sie erwachte und den Traum mit klammen Fingern festhalten wollte, ehe er sie loslassen konnte, dachte sie sachte: „So könnte es sein“, und dann stand sie auf und verharrte am Fenster. Zögernd hob sie die Arme, als ob sie in Zeitlupe einem Nirgendwo winken würde, umschlang sich selbst und hielt inne. Seelenvoll. Sie seufzte leise, ließ ihre Umarmung los und schloss das Fenster. Es hatte geschneit. Und er war nicht da.

Samstag, 20. Oktober 2007

Jemand hat das Licht ausgeknipst (IV)

unbenanntJemand hat das Licht in mir ausgeknipst, nur der Schein der Straßenlaterne erhellt den großen Raum mit dem rauen Boden, auf dem ich kauere und tippe, immer mit dem Schulterblick nach rechts oben, aus dem Fenster, nach ganz oben in die Nacht, wo es genauso dunkel ist wie bei mir. Zwischen uns brennt nur die gleißende Straßenlaterne. Der Tisch zu hoch und voller Aschespuren, der schwarze Stuhl zu klein, mit verknoteten Beinen und Gliederschmerzen darauf, der Prosecco kalt im großen Glas, das in meiner Hand zittert, ich bin müde. Ich sollte weder hier sitzen, noch trinken, noch rauchen, die Kehle ist zu rau, der Husten zu blechern, aber zu lange lag ich wach in der Dunkelheit auf Suche nach Schlaf, nach Gedankenlosigkeit, nach Heilung, aber die gibt es nicht, die Nacht ist erbarmungslos ehrlich, das Fieber zu ruhelos, rastlos. Ich mag die Nacht, aber die Nacht mag mich nicht, sonst würde sie mich in Ruhe ruhen lassen, anstatt aufzuwühlen und aufzureiben. Jemand hat das Licht in mir ausgeknipst, vielleicht war ich es selbst.

Jemand hat sein Licht ausgeknipst. Gegenüber bleibt es dunkel, so dunkel, dass ich nicht mal die Umrisse der hohen Fenster erkenne, ich frage mich, wo er ist. Wer er ist, warum er ist, wie er ist. Ich fühle mich, als würde ich jeden Tag ein Puzzlestück mehr anfügen, mit jedem Blick, der nach oben gleitet, obwohl es immer dasselbe ist, das ich sehe. Eine dunkle Silhouette, eine starre Haltung und ein Sog Traurigkeit, der wie ein telepathisches Mantra zwischen unseren Fenstern über die Straßenlaterne hinweg fließt. „I have the room above her“ klingen zarte Jazzmelodien leise zu mir, und während mir wieder mal die Nase läuft und ich meinen kümmerlichen Anblick im Spiegel auf dem alten Schreibtisch sehe, weiß ich, dass ich morgen wieder den Tag verschenken werde – an die Kraftlosigkeit, die mich kraftvoll treibt und bannt und hemmt. Ich werde wieder die schwarze Jogginghose nicht ausziehen, ich werde die Haare nicht waschen, und die Reste des roten Nagellacks auf den zerkauten Nägeln, den werde ich auch nicht abmachen, und wenn es klingelt, dann bin ich nicht zu Hause.

Gin. Ich könnte Gin trinken, denke ich beim nächsten Schulterblick nach rechts oben, wie an jenem Tag, nach jenem Anruf, der Eis durch meine Adern laufen ließ, das mich verbrannte, und um die Bitterkeit wegzuspülen unter der Haut, um zu vergessen und zu verdrängen, da half nur die bittere Süße von wildem Wacholder, der das Blut zäh macht, also lief ich los in die Nacht, die drückend über der Stadt lag, als würde sie ahnen, dass ich am Stock gehe.

Zwischen den Regalen hallt ein Echo ohne Stimmen, es ist kalt, wer geht schon um diese Uhrzeit in einen Supermarkt und lädt Flaschen in den Wagen anstatt Menschen zu sich ein? Meine Hose rutscht, als ich ziellos weitergehe, die Flaschen klappern einsam im Exil, und dann steht er da und schaut mich an. Ruhig und einen Moment zu lange, als ob er sehen könnte, warum ich hier stehe, als ob er lesen könne auf meiner Haut, der müden. Worte liegen auf seinen Lippen, ein kleines Zögern, ein Blick in meinen Einkaufswagen, ein kaum erkennbares Lächeln, doch der Moment vergeht, so vertraut er auch schien. Das Lächeln erfreut und erschreckt mich zugleich, und wieder ziehe ich meine Hose hoch, werfe einen letzten Blick zurück, auf ihn, und gehe. Er hat zwar den Blick eines einsamen Panthers, aber ich bin es, hinter müden Stäben, gebastelt aus vier Buchstaben.

Wenige Minuten später, zu Hause, in meinem wärmenden Kokon aus Einsamkeit, stehe ich mit dem ersten Gin Tonic am Fenster, spüre den Wacholder in mir pulsieren, doch gegenüber ist es noch immer dunkel, nur die Straßenlaterne brennt.


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Donnerstag, 11. Oktober 2007

Herbstzerreißend

maerz-innovationen-rotwein„Hörst du das?“, fragt er und legt den Kopf leicht zur Seite. Zwischen den Fensterbalken schimmert die sternenlose Nacht durch die Scheiben, die dunklen Locken fallen über seine wachen Augen, die suchend durch den Raum gleiten.
„Was meinst du?“, frage ich abwesend, während der dicke Wirt mit einem Besen durch die hintere Stube fegt und ich das Stechen in meiner Brust ignoriere.
„Du hörst das Gras wachsen“, sage ich lächelnd, „oder einen Holzwurm da drinnen“, und deute auf die holzgetäfelten Wände.
„Vielleicht hast du recht“, meint er und sucht ein letztes Mal das Geräusch, der Wirt stellt eine neue Karaffe Rotwein auf den Tisch. „Prost“, murmelt er mit seiner blechernen Bassstimme, wischt einen unsichtbaren Fleck zwischen unseren leeren Gläsern weg und verschwindet in der Küche.
Wir sitzen in dem Landgasthof an diesem kühlen Herbsttag, trinken ein bisschen zu viel Rotwein und schauen uns zu lange nicht an. Der alte Holztisch sieht verlebt aus, er hat Kerben und Narben, die von vergangenen Zeiten erzählen.
„Hörst du das wirklich nicht?“, fragt er und sieht mich endlich an. Ich halte den Blick fest, lausche aufmerksam, doch ich kann nichts hören. Nur mein Herz.
„Irgendetwas knackst hier“, meint er, und ich lächle ihn nachsichtig an, als ob er etwas ganz Dummes gesagt hätte.
„Ich höre wirklich nichts“, wische ich seine Gedanken weg und lenke ab. Spreche über Nichtigkeiten, die den Abstand zwischen uns größer machen und das Geräusch übertönen, das er hört und ich spüre. Der Rotwein macht meinen Mund trocken. Er nickt, hört zu, streicht sich die Locken aus dem Gesicht. Manchmal zieht er mit dem Zeigefinger die Linien auf dem Tisch nach, und ich rauche zu viel, um mich festzuhalten.
„Da ist es schon wieder“, murmelt er plötzlich und lauscht aufmerksam, während sein Blick sich im Raum verliert. Ich zucke mit meinem Herz und gleichgültig mit den Schultern, suche seinen Blick.
„Da ist schon wieder dieses Knacksen“, wiederholt er, weicht mir aus und wacht über das Geräusch, das ihm keine Ruhe lässt.
„Du spinnst“, sage ich und ziehe die Jacke enger um meine Schultern. „Da ist nichts“, und mein Herz rast schneller als meine Gedanken.
Später verabschieden wir uns vor der Holztür mit den Engelschnitzereien, morgen wird es Frost geben hier draußen auf dem Land. Eine flüchtige Umarmung mit Rotweinatem, ein schneller Blick mit flatternden Wimpern und Hände, die sich berühren und in Zeitlupe loslassen.
Mein Blick verliert sich in dem Kartoffelacker, der irgendwo da hinten in der Dunkelheit liegt, und ich fühle mich unvollständig. Irgendwas tut weh. Irgendwas fehlt.
Als es auf Mitternacht zugeht, ist der Landgasthof verlassen. Nur der dicke Wirt geht eine Runde durch den Laden, stellt da einen Stuhl zur Seite, wischt dort ein paar Rotweinflecken von den Holztischen. Er ist müde, der Tag war lang und seine Hüfte schmerzt. Seufzend geht er durch die hintere Stube und will das Licht abdrehen, doch dann stutzt er.
„Was ist das denn …“ murmelt er und geht zu dem Tisch, an dem vorhin noch die beiden Leute aus der Stadt saßen. Er schiebt die Stühle zur Seite, stutzt, schweigt sekundenlang.
„Sachen gibt’s“, sagt er kopfschüttelnd und fegt das zerbrochene Herz unter dem Tisch zusammen.

Montag, 8. Oktober 2007

Herbsttag, halbtrocken

S73F0116Eine kühle Brise, bevor ich auf den Balkon trete. Zwischen den alten Fensterrahmen zieht der Morgen lautlos in meinen Raum, der zu viele Türen hat, die verschlossen sind. Das müde Holz knarrt, als ich vorsichtig über die Dielen schleiche und auf Zehenspitzen in den Tag trete. Zwischen den Zweigen ein geheimnisvolles Wispern, ein raschelnder Dialog zwischen den grünen und braunen Blättern, gebettet in zarte Strahlen, aber nicht jeder wird im gleichen Moment reif, manch einer braucht mehr Zeit, mehr Herbstsonne, manch einer hält fest am satten Grün vergangener Tage.

Herbsttag, halbtrocken. Die kühlende Sonne findet schwer ihren Weg zu mir, die Schatten wirft auf dem Balkon hoch oben, die Füße in grauen Wollsocken rollen sich ein und frieren, während die grünen Augen ins Leere gleiten, zwischen die Blätter, die Äste, die Rinde, und sucht und bangt, mit blassen Blicken und gleitenden Gesten. Es ist ein Warten auf ein Worauf ohne Weg, an einem halbtrockenen Herbsttag. Ich bin unverstanden und unvollständig, und der Baum vor mir mündet in einer blättrigen Krone aus Herbstlaub, das noch nicht weiß, dass es fallen wird, wie ich fallen werde, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Sonntag, 7. Oktober 2007

Sonntags-Silhouette (I)

1171908126873707452Manchmal wünschte ich, ich könnte durch Mauern gehen. Einfach die Ziegel zur Seite schieben, den Schutt von den Schultern klopfen und dann sagen, als ob es ganz alltäglich wäre, dass ich die Mauer niedergerissen habe: Hallo, ich sehe dich jede Nacht, ich kenne deine Silhouette, die sich wie mit Wachsmalkreiden auf einem traurigen Bild gemalt abzeichnet, wenn die Straßen draußen klamm werden und du ganz oben in deiner Dachgeschosswohnung hinter den hohen Fenstern sitzt und dich kaum rührst, ein Schwarz-Weiß-Spiel mit Graustufen in der Dunkelheit der Nacht, wo wir alle Farben verlieren, wo niemand gewinnt, weder du, noch ich noch alle anderen, die hinter den Fenstern der Nacht harren, hoffen und hocken und wissen, dass der Morgen kommt und die Nacht danach.

Wer verbirgt sich hinter deinem Schatten, der jede Nacht auf mich fällt, warum brennt in deiner Wohnung immer nur ein kleines Licht, und was machst du jede Nacht, wenn du bewegungslos am Fenster sitzt und ich nur deine Umrisse erkenne? Welche Schmerzen versteckst du unter dem Mond, welche Sorgen hauchst du an die Scheiben, was verrätst du den Sternen, wenn du nach draußen blickst?

Vielleicht bist du wie ich und den Worten verfallen, vielleicht schreibst du über mich, die Frau da unten im zweiten Stock gegenüber, bei der auch immer nur ein kleines Licht brennt, aber das jede Nacht, die ihre blutroten Vorhänge nie aufgehängt hat und deshalb immer zu sehen ist, vielleicht siehst du mich auch ohne Farben durch die Nacht gehen, wenn die Unruhe mich ergreift und ich nicht wie du bewegungslos vor dem Computer verharren kann, sondern durch die Räume laufe, die Dielen blass wandere und in viel zu großen Klamotten friere, egal wie viel ich trage. Vielleicht siehst du mich morgens mit einer Tasse Kaffee durch das Wohnzimmer schlurfen, den Schlaf in den Augen, den Kummer im Herzen, und vielleicht runzelst du die Stirn, wenn du mich wieder mit Bierdose in der Hand erwischt, wie gerade eben, wie ich die Nacht auf der Straße beobachte, um nicht mich beobachten zu müssen, aber mein Blick immer wieder nach oben wandert zu den hohen Fenstern, hinter denen dein Schatten ebenso traurig hockt wie ich. Vielleicht siehst du die Geburtstagsblumen auf der Fensterbank, seit sechs Wochen unverändert, und ahnst zu riechen, wie sie einen modernden Geruch verströmen, aber das tun sie nicht, sie atmen wie ich in die Nacht und bewundern deine Silhouette, die so zuverlässig kommt wie die Finsternis, da oben, ohne Sterne, und dein blasser Schatten ohne Farben beruhigt mich irgendwie, weil die Einsamkeit offenbar nicht nur bei mir wohnt.

Freitag, 28. September 2007

Hochmut kommt vor dem Herbst

unwetterNiemals zuvor habe ich den Wechsel der Jahreszeiten so stark gespürt, noch nie zuvor den Sommer so sehr vermisst, das Gefühl von Sonnenbrand auf Haut und Herz, der sachte schmerzt, aber keine Narben hinterlässt, nur Erinnerungen an laue Nächte, in denen die Wärme nie vergeht. Letztes Jahr im Frühling erlebte ich den Sommer, doch als er dann kam, erkannte ich ihn nicht, Hochmut kommt vor dem Herbst, und da war schon Winter, viel zu früh, viel zu kalt, mit Eismännern unter der Haut und keinem Sonnenbrand in Sicht, dafür Narben und keinen Erinnerungen, die mich frieren ließen.

Vor 365 Tagen wurde ich in eine neue Welt geboren, die ich mir selbst geschaffen, gebastelt, gezeugt hatte. Die letzte Nacht verschwimmt, obwohl ich sie spüren kann, sie war wunderbar und wehmütig zugleich, obwohl Freude und Schmerz Hand in Hand gingen, ohne sich zu berühren. Erinnerst du dich auch? Zwei Liter Federweißer und eine Castingshow im Fernsehen, die Wohnung hallte vor lauter Leere, die unzähligen Kisten bereit für die lange Reise, und dazwischen die alte, grünsamtene Couch, auf der wir saßen und unsere Unsicherheit vertranken und verlachten, in dieser letzten Nacht, die uns vereinte, mein Kopf an deiner Schulter und dieses grenzenlose Vertrauen, trotz der Grenze, die wir Wochen zuvor gezogen hatten, und mein lauter Husten, der durch die Wohnung bellte, und deine Bemühungen, eine Nachtapotheke zu finden, um mir Schlaf zu schenken, und wer hätte gedacht, dass eine Woche später eine blonde Ärztin mit Brille mich rügte und Bettruhe verordnete, weil mit einer doppelte Lungeninfektion nicht zu spaßen sei? Am Tag danach dein langer Blick, der kalte Kaffee in der Septembersonne, und die Minuten, die rasten, viel zu schnell, ein Nebeneinander im Taxi, ein letzter Händedruck, und dann war ich über den Wolken und auf dem Weg in mein neues Leben, in dem du keinen Platz hattest. Und Stunden später der laue Altweibersommerabend auf meinem Balkon, mit Pizza Salami, Prosecco und vier Umzugsmännern, die meine Kisten in die verstaubte Wohnung trugen, die meine neue Welt wurden.

Manchmal vermisse ich es zu sehr. Den Platz, den ich frei geräumt habe, der so vertraut, verseelt und verherzt war, und manchmal sehne ich mich zurück. In die vergangene Stadt, an deine Seite, die schwer, aber schön zu ertragen war. Aber es gibt Entscheidungen, die man treffen muss, ohne das Ziel des anderen Weges zu kennen, und wäre ich den leichteren Weg gegangen, gestanden und geblieben, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin – zwei Schritte nach vorne, vier zurück. Zwar zaghaft und zögernd, aber voller Zukunft und Hoffnung, das zu finden, was ich aufgegeben habe. Einen Coffeeshop, in dem ich morgens ohne Worte meinen Milchkaffee to go bekomme, einen Frisör, der mich schweigend schön macht und dabei Prosecco serviert, einen Obsthändler, der mir weniger Himbeeren verrechnet, als er einpackt, einen Sushi-Mann, der weiß, dass ich keine Gurken mag, einen Rosenverkäufer, der mir einmal im Monat eine Blume schenkt, und einen Mann, der mir so vertraut ist wie ich mir selbst.

Heimat, sie liegt in der Vergangenheit, auch wenn ich sie hier suche, Heimat, mit vertrauten Gesichtern, die ich nicht kenne, die mich aber täglich streifen, ich sehne mich nach ihnen. Und nach einer starken Schulter, die mich auffängt, wenn ich keine Worte finde, wenn die Stimmung so schnell wechselt wie die Jahreszeiten oder meine Laune, so wie vorhin auf der Straße, auf dem Weg ins Schwimmbad, als es immer dunkler und düsterer wurde, der Himmel so traurig wie meine dünne Haut, und wieder traf ich eine Entscheidung, derer ich mir nicht sicher bin, statt schwimmen zu gehen, holte ich zwei Flaschen Prosecco, und nun sitze ich hier, greife nach den Erinnerungen, den alten, und trinke viel zu schnell.

Ich vermisse die Sicherheit, die ich mal hatte, und die Sorglosigkeit, die ich immer vortäuschte, aber vielleicht muss ich neben Unsicherheit und Sorgen schlafen, bis sie sich miteinander versöhnen, und das wird erst passieren, wenn ich mich mit mir versöhne. Und das ist das Schwerste. Sich selbst zu verzeihen, wenn es so viel gibt, das man verabscheut, wenn man sich im Spiegel in die Augen sieht. Vielleicht bin ich ein besserer Mensch geworden, seit ein paar Jahreszeiten gewechselt haben. Aber vielleicht brauche ich auch noch einen Winter, Frühling, Sommer, Herbst, um mir in die Augen sehen zu können. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie lässt einen vergessen, dass es einmal einen Sommer gab, in dem Hochmut vor dem Herbst kam.

Dienstag, 25. September 2007

Ein LEBEN für den Tod - und umgekehrt

Langes_Leben1 „Ich überlege, ob ich die Rettung anrufen soll, damit sie mich vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer trägt“, sagt J. mit dunkler Stimme, die bleiern klingt und bedeckt ist mit Fieber, Schmerzen und Traurigkeit, über der immer noch der trockene Humor steht, mit dem sie sich zynisch durchs Leben lacht. Ich schlucke mit bitterer Galle im Mund, weil es jedes Mal ein neuer Elektroschock für mein Herz ist, wenn J. so mit mir spricht, unverblümt, knallhart und ehrlich und mich damit beinahe umrennt, sodass ich nicht der Fels in ihrer Brandung sein kann, der ich sein will, und wie sie im Meer der Unseligkeit ertrinke, schwach, sämig und sorgenvoll.

Es wird Herbst da draußen, gerade habe ich das Fenster in meinem Schlafzimmer geschlossen, die pinken Vorhänge zugezogen, und ich bin ein bisschen traurig, dass die Grillen mich nicht mehr in den Schlaf zirpen und der kalte Wind die alten Fensterbalken quietschend schließt. Die Sommertage mit lauen Winden sind Geschichte, die nirgendwo geschrieben steht. Gegenüber, wo den ganzen Sommer Licht brannte, ist es seit zwei Tagen finster, die Menschen sind zwar da, es scheint Licht und ich sehe Silhouetten auf dem Balkon, aber der zarte Schimmer, der jede Nacht in meine Schlaflosigkeit strahlte, ist verschwunden. Der Raum, in dem eine Kerze stand, ein dünnes Licht, eine kleine Lampe, liegt nun in Dunkelheit, und ich weiß nicht, ob ich deshalb nicht mehr schlafen kann.

„Mama ist krank, lass mich bitte ein bisschen in Ruhe“, sagt J. blechern ins Telefon, und ich höre die 6-Jährige fröhlich vor sich hin singen, sie ahnt weder, dass etwas in der Luft liegt, noch dass es Unwetter gibt, die bleiben, und ich bin froh darüber, über die 6-Jährige mit den fragenden Augen und der lispelnden Aussprache, die mehr weiß, als ein Mädchen in ihrem Alter wissen sollte, und dennoch Kind ist, wie Kinder sind.

Ein immerwährendes Auf und Ab. Vorhin gearbeitet und gegoogelt und über siebzehn Ecken auf Sylvia Plath gestoßen und mich erinnert. Nachgerechnet, wann sie sich umgebracht hat und überlegt, dass ich Mitte Dezember meinen Kopf in den Ofen stecken müsste, 30 Jahre und drei Monate alt, um es ihr gleichzutun. Gedanken verworfen. Dann erneute Gedankenfetzen, als ich im Bett liege und aus dem Fenster starre, als das Unwetter noch weit weg ist und ein letzter Hauch Altweibersommer um meinen müden Körper weht. Ich denke, dass die Traurigkeit im letzten Jahr auch Platz gemacht hat für freudige Neugier, für fremde Freunde, ich durfte Dinge erleben, die vorher undenkbar gewesen wären, und über dem allen steht J. mit ihrem Lebenswillen, obwohl sie täglich zu mir sagt, dass sie sterben will - und ich mit ihr.

Im Juni, als wir leichtfüßig und herzvoll waren und umschlungen ein paar Sommertage erlebten, da wurden wir Kinder und handelten nach unseren Herzen. Wir ließen uns tätowieren, bleiern vom Bier, weich gemacht von Zigaretten, und der Schmerz der Nadel, die uns stach, war niemals so groß wie die Liebe, die uns zu diesem Schritt flog. Heute, gedankenverhangen und ein bisschen traurig, dachte ich über die nächste Tätowierung nach, die wir uns machen, bald, morgen, Ende des Jahres, und so oft der Tod auch zwischen uns steht, ich bin für das lange Leben, weil es jeder verdient, vor allem J.

Freitag, 21. September 2007

A4-Monolog, innen (Part IV)

A4-innenDie Nacht ist lange, aber viel zu kurz, in dem langsamen Zug, der mich durch zwei Länder schaukelt und trotz weicher Wolldecke nicht schlafen lässt, mit dem dicken Engländer gegenüber, der mit gekrümmten Füßen über die Dunkelheit wacht, während seine elfenhafte FreundinTochterSchwesterNichte sich auf zwei Sitzen zusammenrollt, und ich, ich stelle mich schlafend, um nicht reden oder in Augen schauen zu müssen, drehe mich auf drei Sitzen zur Seite und harre mit geschlossenen Augen der Minuten. Um sechs Uhr morgens, als der Zug endlich in der Heimat einfährt, stehe ich auf und ziehe die schwarzen Chucks wieder an, als die Sonne aufgeht und fröstelnde Morgenkälte mich einhüllt, aber die Müdigkeit verpufft, und ich laufe durch die schlafende Stadt, komme endlich an, wo meine Seele seit drei Tage auf mich wartet und keine Ahnung hat, was in drei Tagen alles passieren kann. Die Welt hat sich gedreht, wurde durchgerüttelt von einem Urknall, der zwar bitter nötig war, aber doch so überraschend kam, dass er meine Stimme zittern und mich an meiner Menschenkenntnis zweifeln ließ. Bleibt alles anders, meine Uhr wird neu gestellt, doch erst muss ich sie aufziehen, ob ich die Kraft dazu habe, wird sie mir sagen, wenn sie wieder anfängt zu ticken, momentan steht sie, und das ist auch gut so, die Zeit soll jetzt im Nichts festhängen und erst wieder vergehen, wenn ich es will, und diese Zeilen widme ich meiner Lieblings-Kollegin, die in den letzten drei Tagen fast zur Anti-Kollegin wurde, aber nur fast und nur ein paar Minuten lang, denn offene Worte und leere Gläser haben uns geheilt, Averna sei Dank, und HerrSchröderHerrSchröder is back in heart – nastrovje und GinGin. Und dann, wenn die Welt sich weiterdreht, obwohl sie gerade auf dem Kopf steht und dabei schwankt, dann gibt es Menschen, die einen auffangen, mit Worten, Wärme und Weisheit, und diese Menschen sind das Pflaster auf dem Urknall, das mit Liebe lindert, was andere mit Boshaftigkeit zufügen, und wenn die Blätter dann fallen, werde ich umarmen und herzen und munden, denn Kreuzberger Nächte sind lang. Der Tee, der mich schläfrig machen soll, wird lau, die Füße sind kalt und Herr Jauch trägt eine Brille, seit wann eigentlich?, während die Studentin mit 8000 Euro das Studio räumen muss, weil sie eine Frage nicht beantworten konnte, an die ich mich nicht mal mehr erinnere, es ging um Gemüse oder Obst, und das mochte ich noch nie, meine Früchte ernte ich anders. Es ist tatsächlich soweit, ich werde mein erstes Mal hinter mich bringen, hoffentlich besser als das andere erste Mal, als ich am Tag danach erfuhr, dass ich Sex gehabt hatte, aber nun geht es nicht um Körperlichkeiten, sondern um Worte, und ob meine reichen werden, wird sich zeigen, ich werde springen ohne Sicherheitsnetz, aber das mache ich seit drei Tagen auch, seit der Urknall kam und mich fallen lässt. Und eigentlich ist das doch kein A4-Monolog, denn ich habe drei Mal abgesetzt, um mit flatternden Lidern auf den Fernseher zu starren, ohne Bilder aufzunehmen, ich bewege mich in Zeitlupe und warte auf die Müdigkeit, damit sie mich mitnimmt auf die Reise nach Morgen, wo hoffentlich die Knochen weniger schmerzen und das Gefühl weniger wird, wie jeden Tag, an dem ich bete, dass es vergeht, damit ich bleiben kann, wo ich hingehöre.

Nellas Niemandsland

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Nella Niemandsland - 10. Jan, 00:58
Nichts ist vergessen,
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wie schön, dass hier...
wie schön, dass hier wieder einmal was neues steht!
la-mamma - 3. Mai, 08:49
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Nella Niemandsland - 28. Apr, 01:31
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Wie schon der große deutsche Volksphilosoph Roland...
DrYes - 17. Apr, 01:01

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