Sonntag, 21. Oktober 2007

Schlagzeilen, samstags

zeitungsrolleEs war ein langer, kalter Herbst, der einen strengen Winter erahnen ließ, mit winzigkleinen Eiszapfen an den schwarz-verklebten Wimpern, die den Frost wegklimperten, der beißend an ihren Pupillen haftete. Es roch nach Schnee, als sie an diesem Samstag Abend durch die enge Straße schritt, den Schal mehrfach um den Hals geschlungen, die Haare unter der Kapuze vergraben, die Hände wohlig in den weiten Manteltaschen versenkt. Ihre festen Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster wie ein blechernes Echo, als sie vorwärts hastete, es war zu kalt zum Schlendern, und in den Schaufenstern gab’s nichts Neues, denn die Stadt war leer.

Die Tür zum Kiosk um die Ecke quietschte und übertönte das zarte Glockenspiel, das ihre Ankunft ankündigen sollte. Als sie eintrat, spürte sie die beißende Hitze, die den kleinen Raum flirren ließ, der Ofen in der Ecke lief auf Hochtouren, und sie zog die Kapuze von ihrem Kopf und schüttelte das Haar wie einen lästigen Gedanken ab.
„Wie immer?“ fragte der bärtige Zeitungsmann, dessen Namen sie noch nie gewusst hatte, der ihr aber jeden Samstag Abend wortlos die richtige Zeitung reichte, und sie nickte, lächelte und legte die abgezählten Münzen in seine verlebte Hand.

Es war Samstag Abend, einer von vielen, einer von 52, und wie jede Woche verbrachte sie ihn mit Druckerschwärze und Druck im Herzen. Wenn sie nervös war, knetete sie ihre Oberlippe zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, so auch an diesem Samstag Abend, dabei war sie nicht nervös, nur unruhig, aber das war sie immer, stets ein bisschen zu hektisch, stets versucht, einen Schritt schneller zu sein als andere, als sie selbst, deshalb strauchelte sie so oft, vor allem am Samstag Abend.

Zurück in ihrer Wohnung zog sie den klammen Mantel aus, streifte die Schuhe ab und setzte sich auf die Couch, und wie jeden Samstag legte sie die druckfrische Zeitung wie einen kostbaren Schatz in ihren Schoss. Sie blätterte langsam, von hinten nach vorne, Seite für Seite, ohne Buchstaben aneinander zu reihen, Silben zu erfassen, Wörter zu lesen. Es war das Rascheln und Rauschen, der Geruch des Papiers, der Genuss der Dünnblättrigkeit, es waren nicht die Schlagzeilen, Schläge zu zeigen hatte sie selbst genug in ihrer Dünnhäutigkeit. Jeden Samstag Abend, 52 an der Zahl, blätterte sie sich durch den Abend und inhalierte Papier, bis sie fertig war und die Seiten durchscheinend-blass zwischen ihren Fingern vergilbten.

Sie zündete am Samstag Abend nie eine Kerze an, um warmes Licht um sich zu haben, die gedimmte Stehlampe genügte ihr, sie zündete den roten Wachsstumpfen auf dem holzigen Tisch nur an, um zu verbrennen. Jeden Samstag Abend faltete sie aus einem der zerflädderten Zeitungsblätter einen Schwan, nur einen, obwohl Schwäne ein Leben lang zu zweit bleiben, aber sie faltete immer nur einen, und den verbrannte sie dann in der kleinen Flamme, die nur minutenlang leuchtete und danach eine Woche warten musste, bis sie am nächsten Samstag Abend wieder verbrennen durfte. Danach lehnte sie sich erschöpft in die großen Kissen zurück, bettete sich auf das raschelnde Papier, schloss die Augen und wartete mit Druckerschwärze in der Nase auf den Traum.

Es war ein Tag am Strand, am Ufer eines Sees, mit bauschigem Gras und hohem Farn, irgendwo im Norden, wo selbst im Hochsommer eine kühle Brise weht und Gänsehaut aufkommt. Die karierte Decke lag ganz nah am Wasser, sodass die Wellen in ihren Ohren brachen. Sie sprachen wenig, verloren sich lieber im Horizont, nur manchmal sahen sie sich an unter trägen Wimpern, und dann kam ein Lächeln hoch, das süß durch die Kehle rann und aus den Lippen perlte, aus beiden. Als es später wurde, lagen sie noch immer auf der Decke, sie stützte sich träge auf ihrem Arm ab, er kaute nachdenklich an einem Grashalm. „Das ist ganz nah dran am Paradies“, sagte er und lächelte nicht, sondern starrte nach oben, wo eine Wolke in Form eines Vogels vorbeizog. „Was ist denn das Paradies?“, fragte sie, aber er antwortete nicht, er hatte die Augen geschlossen, also tat sie es ihm nach und lag still da, neben ihm, ohne ihn zu berühren. Stunden später erwachte sie, es war dämmerig geworden und sie hatte Gänsehaut an den Oberarmen. Als sie sich aufrichtete, sah sie einen weißhaarigen Mann vor der Decke stehen, der sich an einem Stock abstützte und auf sie beide herablächelte. „Im Schlaf umarmen sich Seelen“, murmelte er, nickte sich selbst zu und ging langsam weiter. Sein Stock hinterließ eine kringelige Spur in der Wiese, und als sie neben sich sah, war niemand mehr da, nur ein Schwan tauchte irgendwo in der Ferne ins Wasser ab.

Als sie erwachte und den Traum mit klammen Fingern festhalten wollte, ehe er sie loslassen konnte, dachte sie sachte: „So könnte es sein“, und dann stand sie auf und verharrte am Fenster. Zögernd hob sie die Arme, als ob sie in Zeitlupe einem Nirgendwo winken würde, umschlang sich selbst und hielt inne. Seelenvoll. Sie seufzte leise, ließ ihre Umarmung los und schloss das Fenster. Es hatte geschneit. Und er war nicht da.

Nellas Niemandsland

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