Sonntag, 16. September 2007

Herbstzeitlose


herbstz3_s


Sanft schmiegen sie sich
zur samtweichen Sonne,
wollen Wind und Wärme,
werden wachsen, wild
- herbstzeitlos


Das ist mein Herbst.

Ich sammle Erinnerungen,
trockne sie,
presse sie
in kein Album
- durch die Kehle


Das ist meine Zeit.

Ich bin
herbstzeitlos,
haltlos,
herzlos.


Das ist mein Los.

Ich lasse los.
Es wird Zeit.
Im Herbst.

Montag, 10. September 2007

Ein Sommernachtstraum

SommernachtstraumER hatte an diesem Tag noch nicht aus dem Fenster geblickt, obwohl er es normalerweise tat, aber dieser Sonntag war bleiern und zäh. Er war zu spät aufgestanden, und das mit dem linken Fuß, was ihm nicht recht war, denn er fühlte sich fremd, als er in den Spiegel blickte und sich gedankenverloren über die Bartstoppeln strich. Koffein peitschte ihn hoch, ließ ihn Gedanken tanzend neue Ideen fangen, fixieren, festhalten, und er saß da, stundenlang, starr, schreibend, auf dem schwarzen Stuhl mit dem Blick auf die blasse Wand, die er abwesend alleine anstierte. Dann kam sie ihm in den Sinn, mit den großen Augen und dem zu lauten Lachen, und die Phantasie fing ihn ein wie ein Netz, gesponnen aus lauen Sommernächten der Vergangenheit, die einst erfüllten. „Du sangst im Mondlicht unter ihrem Fenster mit falscher Stimme Lieder falscher Liebe; du stahlst den Abdruck ihrer Phantasie“, und er tippte mit flinken Fingern zarte Zeilen, um sie in sein Netz zu holen, das er einst gesponnen und nie entwirrte.

SIE hatte früh am Morgen gewartet, dass die Dunkelheit vergeht, die der Schlaf ihr nicht geschenkt, fünf Uhr morgens und die Sonne zart am Erwachen, mit trockenen Augen spähte sie aus dem Fenster und wollte den Mond vergessen, der ihr stummer Begleiter in langen Nächten wurde, schweigsam, starr und schwermütig. „Ich bin diesen Mond satt; ich wollte, er wechselte … Komm, Tränenschar! … Mond, lauf nach Haus!“ Sie war traumvoll erschlagen, wach, weich und wund gelegen, Koffein in rauen Mengen, intravenös zu sich genommen. Der Tag zelebrierte sich ohne sie, wie jeden Morgen, an dem sie zu früh erwachte und zu spät die Wunden leckte, die alten, die nässenden. Dann kam er ihr in den Sinn, als seine Buchstaben an diesem Sonnentag auftauchten und einzeln vor ihren müden Augen einen Ringelreihen tanzten, zu dem sie im Takt wippte, mit einem zu lauten Lachen ohne Töne, die blieben bei ihm.

DER TAG erfasste beide in einer einsamen Einheit, als ob zwei Fremde einander gefunden, um sich ihren Schmerz zu erzählen, doch sie taten es nicht, weder er, noch sie, aber zwischen den Zeilen blieb ein wenig Wehmut und süße Schwermut und ein Hauch dessen, was man sich erzählt, wenn man sich mag, aber zu wenig kennt, verblümt, verschämt, versteckt. „Nun, liebes Herz? Warum so blass die Wange? Wie sind die Rosen dort so schnell verwelkt?“, und in Metaphern stelzten sich beide nach drüben, wo ihre Sehnsucht Einkehr hielt und sich versteckte vor zu vielen Wahrheiten und dem Öffnen vor einem Fremden, dessen Seele man längst erkannt hat, im Rausch des Regens, nach dem man sich in einer Sommernacht sehnt. „Vielleicht, weil Regen fehlt, womit gar wohl sie mein umwölktes Auge netzen könnte.“

ER lächelte, als ihre Buchstaben ihn wie ein Trommelwirbel umfassten, ihre Worte dröhnten in seinen Ohren, als er sie lautlos murmelte und sein Herz warm, weich und wund wurde, als ob er heimlich gewartet, gesucht, gebeten hätte um die Botschaft, die ihn erreichte und die er mit einer kleinen Handbewegung in eine schmale Ecke schob, damit niemand lesen konnte, was er fühlte, er wollte verstecken und verbergen, vor allem die Phantasien, die ihn umfingen, und den Blick ihrer Augen, an den er sich erinnerte, ausklammern. „Sie sieht mit dem Gemüt, nicht mit den Augen, und ihr Gemüt kann nie zum Urteil taugen. Drum nennt man ja den Gott der Liebe blind. Auch malt man ihn geflügelt und als Kind, weil er, von Spiel zu Spielen fortgezogen, in seiner Wahl so häufig wird betrogen“, und er wusste, dass es falsch war, aber zu richtig zugleich, und er richtete nicht über sich, sondern riskierte einen Blick nach drüben, wo sie saß und wartete, auf ihr Schicksal, das er in der Hand hatte mit der Entscheidung darüber, die Grenze zu überschreiten, wo dahinter der Schmerz verborgen liegt. „Ich weiß nicht, welche Macht mir Kühnheit gibt, noch wie es meiner Sittsamkeit geziemt, in solcher Gegenwart das Wort zu führen; Doch dürft ich mich zu fragen unterstehn: Was ist das Härt’ste, das mich treffen kann?“

SIE lächelte, als er sich immer tiefer unter ihre Haut tippte und spürte die Silben mit leichten Füßen ihr Herz umschmeicheln, und dann blitzte es, nicht vor dem Fenster, sondern in ihr drin, und die Erkenntnis traf schwerer als jede unausgesprochene Wahrheit, die sie wie ein Strudel erfasste, in dem sie ertrinken wollte. „Und sie, das holde Kind, schwärmt nun für ihn, schwärmt andachtsvoll, ja mit Abgötterei für diesen schuld’gen, flatterhaften Mann“, und obwohl die Vernunft ihr etwas anderes diktierte, ließ sie sich fangen von dem fremden Zauber, der ihr so vertraut war, als wäre er neben ihr aufgewachsen, Hand in Hand, Herz an Herz, fast so, als wären zwei Seelen einer entsprungen, zwei Elfen, die mit schmalgliedrigen Fingern etwas festhalten, das zu närrisch ist, um es greifen zu wollen. „Die Liebe deute, was die Liebe spricht. Ich meinte nur, mein Herz sei Eurem so verbunden, dass nur (ein) Herz in beiden wird gefunden.“

DIE NACHT kam über beide wie eine samtene Decke aus Watte, die sie einlullte, einfing und einverleibte, sie auf der roten Couch, er auf dem schwarzen Stuhl, gefangen, gehetzt und getrieben von der Wärme zwischen den Buchstaben, und als der Mond sich zwischen sie stellte, kam weder Müdigkeit, noch die Nacht, nur ein Sommernachtstraum, gebastelt aus glasklaren Silben, die die Dunkelheit strahlen ließen. Eine Freundschaft mit Flügeln, so zart und weich, dass sie über dem Boden der Tatsachen flatterte, eine Liebe für Narren, verlachenswert, jenseits der Vernunft, gebaut auf einem wackelig-weichen Sommernachtstraum ohne Füße. Bevor der Morgen brach, sanken seine Lider, und der Millimeter seines Blickes, der noch aufnahm, was geschrieben, erleuchtete die letzten Minuten des Wachseins. „(Der) Raum sei zwischen uns. Schlaf süß! Der Himmel gebe, dass, bis dein Leben schließt, die Liebe lebe“, und mit müden Worten ging er zur Nacht, als sie aufnahm, annahm und abdriftete in einen neuen Tag, den sie wachend durchlebte: „Wachst du auf, so scheuch den Schlummer, dir vom Aug der Liebe Kummer!“

DER TRAUM des Sommers, wenn Phantasien sich berühren, begreifen und betören, es hat nur die Magie zu gehen, nicht zu bleiben, der Zauber eines Sommernachttraumes liegt nicht im Festhalten, sondern im Loslassen, im Fortfliegen der Elfen, die schelmisch lächeln und alles davon flattern, was schön sein könnte, aber nur schön ist, wenn es vergeht. Wenn es in seiner Hand liegt, würde es noch viele laue Sommernächte geben, in denen er und sie sich über ihre Seelen nach unten, in ihre wunden Herzen tippen, aber Shakespeare führt keine Regie, nicht bei ihr, nicht bei ihm, und Elfen gibt es schon lange nicht mehr, wenn beide auch von deren zarten Flügeln getragen sind, auch heute noch. Aber nicht zueinander, manche Flügeln müssen behutsam behände brechen, gebrochen werden, von eigener Hand, bleiernd, blutend und blässlich. „O klopf mein Herz und brich! … Ich scheide gern.“

Sonntag, 9. September 2007

Es ist nicht die Sehnsucht

traumaEs ist nicht die Sehnsucht, die mich weckt, wenn ich in der blauen Minute, wo Schlaf und Wachen sich ablösen, über Traum und Trauma stolpere und versuche, die Nacht festzuhalten, die sachte über meine Haut streift und sich im trüben Tageslicht auflöst, als wäre sie nie da gewesen. Der Wind tanzt zwischen den Zweigen, irgendwie zart und zögernd zugleich, der Himmel graut sich zusammen, während die Regentropfen auf der alten Fensterbank abprallen und liegen bleiben, ganz still. Eva Cassidy singt in meinem Kopf, weiche Töne nisten sich magisch in mein Herz, das noch ganz ruhig ist und sich weigert zu klopfen. „Lying in my bed I hear the clock tickin', think of you”, und ich hülle mich ein in die Erinnerung an Traum und Trauma, decke mich zu mit den Momenten, die in der Nacht neben mir lagen und nun schwerherzig verpuffen. Wo fängt der Tag an, wo hört die Nacht auf, und wer führt Regie über meine Träume?

Es ist nicht die Sehnsucht, die mich treibt, es ist die Sucht nach einem Mehr, das nicht fassbar, nicht machbar und schon gar nicht begreifbar ist. Der Traum von gestern ist nicht zu fassen, er löst sich auf und zerstiebt in Staubpartikeln, die zum Fenster hin tanzen und vom Regen weggespült werden, Träume sind nur zarte Geschichten, die man vergisst, doch manche bleiben, irgendwo unter dem Kopfkissen, sie kommen wieder. Ich igle mich ein in die lila Bettdecke und schließe die Augen vor dem Tag, dem Regen, den Wolken, dem Grau, vor mir. „Turning in circles, confusion is nothing new”, ich bewege die Glieder in Zeitlupe und schüttle die Gedanken ab, die mich fangen, lähmen und einlullen, und die Geschichte des Abends vor dem Traum liegt neben mir und erdrückt.

Es ist nicht die Sehnsucht, die Nähe suchte und zuließ, es ist die Hoffnung auf ein Vielleicht, auf ein Vergessen, auf ein Verdrängen, nicht um anderen wehzutun, sondern um das eigene Wehtun zu verringern. „I never made promises lightly”, ich habe es nicht getan, aber beinahe. Der Kuss, nach dem man im Traum hungert, kann nicht ersetzt werden von einem Kuss, den man bei Tageslicht gibt, er schmeckt nach einer Lüge sich selbst gegenüber und dem Geküssten, der nicht ahnt, dass er eine Judas-Hülle küsst, die voll werden will, aber nicht von ihm. Ich will nicht verletzen, aber ich tue es trotzdem, ich will nicht richten, aber ich tue es, über mich, ich bin der Henker.

Es ist nicht die Sehnsucht, die mir den Schlaf stiehlt und im Verborgenen hält, wo ich sie gebettet auf graue Wolken suche. „I know dark clouds will gather over me”, ich erahne, was kommen wird, ich spüre, dass die Veränderung, die ich herbeiführen muss, noch grauer werden wird, als es jetzt schon ist, hier, wo der Regen noch immer leise gegen die Scheiben tropft und der Wind mich frösteln lässt in einer Nacht, wo Traum und Trauma noch vor der Tür stehen, und ich sie hereinlasse, weil ich zu schwach bin, um alleine zu schlafen, und manchmal, da kommen Traum und Trauma mit der Sonne Hand in Hand in meine Nacht und wärmen mich mit flüsternder Vergangenheit und leiser Zukunftsmusik, im Dreivierteltakt – „I still hear your voice on warm summer nights, whispering like the wind”.

Es ist nicht die Sehnsucht, es ist die Erinnerung an vergangene Tage und die Hoffnung auf kommende, und dazwischen hockt nicht die Sehnsucht, sondern ein kleines Flehen nach einem Mehr, das zulässt, was in Traum und Trauma passiert, aber bei Tageslicht vor der Realität flieht. „Flashback to moon nights, almost left behind“, und die Vergangenheit ist so nah, als säße sie neben mir und hielte meine Hand, aber ich stolpere wie immer über den Konjuktiv und hole mir blaue Flecken an dem Koffer, den ich immer mit mir herumschleppe – „A suitcase of memories, time after sometime”.

Es ist nicht die Sehnsucht, sage ich, es ist die Sehnsucht, sagt Arthur Schnitzler. „Die Sehnsucht ist es, die unsere Seele nährt, und nicht die Erfüllung“.

Dienstag, 4. September 2007

Gehen

GehenZu viele Niemandslandtage prallen aufeinander und gehen ineinander über wie dickflüssiger Alltagsbrei, der an den Händen kleben bleibt. Sieben Tage, drei Städte, drei Hotels. Überall antiseptisches Schwirren in der Luft, gesichtslose Rezeptionisten, zu flache Kopfkissen, ein immerwährendes Kofferpacken und Orientierungslosigkeit beim Öffnen der Augen, wenn ein Film über den Pupillen liegt und der trübe Blick über einen fremden Ort gleitet. Wo bin ich? wird zum monotonen Mantra, das immerwährend durch Kopf und Herz spaziert und sehnsüchtig eine Seele zum Anlehnen sucht. Zu Hause sein, das gibt es nicht, irgendwo ankommen und bleiben, Geborgenheit spüren, landen und rasten, das ist unmöglich, ich durchquere in meinem inneren Niemandland unendliche Weiten und komme nicht an, weil ich gehe.

Gehen, immer weiter, ein Schritt nach dem anderen, meist zu hastig, manchmal in Zeitlupe, aber gehen, voran, in mein Niemandland, ganz weit weg, von ihr, von ihm, von mir. Gehen, verloren, und nicht gefunden werden wollen, weil ohnehin niemand sucht, vor allem nicht im Niemandsland, gehen, aufrecht, obwohl das Herz gebeugt an einem Krückstock geht. Gehen, auseinander, zueinander, immer gehen, bis nichts mehr geht. Gehen, ver, vor Wärme und Zuneigung und Zeit, gehen, zer, auf den Lippen, in den Augen, im Sinn.

Herzensmenschen, tief drinnen, Herzensfamilie, weit weg, eine Wohnung unter der Haut mit euch teilen, mit einer kissenüberdeckten Couch und glasklarem Lachen, das zwischen uns hockt und wärmt. Ihr da draußen, die ihr da seid, wenn ihr fort seid, mit den runden Augen und den warmen Armen, die ich loslasse, und mein Herz sitzt zwischen euch auf der Couch und klopft an.

Ich gehe.
Ihr fehlt.

Sonntag, 2. September 2007

Die gepolsterte Fensterbank

salzburgDer Fluss glitzert in Spektralfarben und ruht schimmernd in der blauen Stunde, die bald verklingen wird. Zwischen hohen Bergen und grünen Wäldern schmiegt er sich breit und mächtig ins Tal und wird von der Burg bewacht, die da oben steht und glanzvoll über der Stadt thront, als wüsste sie, worauf es ankommt.

Eines Abends, als die Magie des Flusses sie das erste Mal ergreift, sitzt sie über den Wellen auf einer gepolsterten Fensterbank und starrt in die kühle Nacht und das dunkle Nass. „Irgendwann möchte ich auch eine gepolsterte Fensterbank haben“, sagt sie mehr zu sich als zu ihm, und seine Arme umschlingen sie und sie flüstert kichernd: „Doch nicht hier“. Die Minuten werden weichgezeichnet, die Bettdecke kratzt ein wenig, aber im Jetzt ergreift sie ein Spektral-Strudel, denn es gibt kein Morgen, und seine Augen bleiben offen, bis der Morgen doch kommt, und dann umarmt er und lässt auf dem Kissen ihre Zukunft zurück, von der sie in dieser Stunde nichts ahnt.

Monate später steht sie wieder an dem Fluss, die blanken Augen suchen die Fenster ab, doch wo die gepolsterte Fensterbank ist, das erkennt sie nicht. Der Fluss glitzert dieses Mal nicht, er ist dunkel und reißend und strömt nach Süden, während die Kerze in ihrer Hand brennt und sie Abschied nimmt vom Gestern, von einer Nacht voller Spektralfarben, die nun schwarz-weiß sind und ausgemalt werden wollen. Und die Kerze, die gleitet durch die Nacht und verschwindet in den Wellen, als hätte sie nie gebrannt, wie die Nacht einst mit ihm.

fensterbankSie hat jetzt eine gepolsterte Fensterbank, auch wenn sie nie darauf sitzt. Das Gestern klemmt noch zwischen den Kissen, im Morgen wird sie dann sitzen, ruhen und rasten, irgendwann, wenn die Kanten der Erinnerungen verschwimmen, verändern und verzeihen.


Sie wird immer das Mädchen von der anderen Seite des Flusses bleiben. Und am anderen Ufer, da steht ihre Sehnsucht und lacht sie aus.

Samstag, 11. August 2007

Strudelteigparty mit Butterstreuseln oben drauf

Der dritte Abend bei J. fühlt sich an wie eine lang gezogene Strudelteigparty, mit kandiertem Zucker und Butterstreuseln oben drauf. Die Nacht scheint endlos, und während es draußen wütend gewitterregnet, sitzt man bei offener Tür im Windhauch um den Schreibtisch und tippt. Im roten Schlafzimmer liegt J. schwerelos, daneben das träumende Kind, und draußen wartet man, bis sie sich regt.

J. muss noch arbeiten, aber erst will sie schlafen, und ohne Worte beschließt man, auch wach zu bleiben, man bringt sich gemeinsam durch die Nacht. Der Minutenzeiger bewegt sich langsam, der Prosecco perlt und man spielt Quiz-Taxi, brüllt sich die falschen Antworten zu und gackert einstimmig, weil man es nicht auf Level 4 schafft (und man erst am nächsten Tag begreift, dass es nur drei Level gibt).

„Warum heißen ABBA eigentlich ABBA?“ fragt A., die gerne über Analsex spricht, aber eigentlich nie welchen hat, und als sie die Antwort bekommt, werden ihre großen Augen noch größer. „Klugscheißer“, murmelt sie, und J. kontert: „Nur weil du dumm bist, bin ich noch lange kein Klugscheißer“ und man gackert wieder in bewährter Klassenfahrt-Manier, bis Daddy kommt und eine rauchen will, aber er kommt nicht rein in diese Klassenfahrt-Stimmung, er ist keiner von uns.

Es ist eine andere Welt hier, in der Stadt im Westen, wo man über der Holzteppe in einem Paralleluniversum landet, gebastelt aus reiner Herzensfamilie, wo keiner weiß, was in der nächsten Minute passiert, wo es keinen Plan und kein Ziel gibt, aber die Nähe zueinander alles übersteht. Wer müde ist, legt sich wortlos hin, irgendwo, es gibt überall Decken und Kissen, wer trinken will, tut es vorwurfslos um zehn Uhr morgens, wer weinen möchte, tut es haltlos und wird dabei gehalten.

Manchmal ist es ganz still, die Nacht ist erfüllt mit dem monotonen Tastenklicken der vier Computer, die sich an dem schwarzen Schreibtisch eng aneinander schmiegen, und immer wieder klickt leise ein Feuerzeug zwischen Donner und Blitz und sprüht Funken innerhalb der Minuten.

Der Alkohol hängt schwer zwischen meinen bleiernen Lidern, doch nicht schwer genug, um mich vergessen zu lassen, und in der Erinnerung an vergangene Sonnentage bade ich gedanklich im Regen und bin traurig, einfach nur traurig, und die Schlinge um mein Herz ist zu eng und lässt mich nicht atmen, aber umso mehr trinken, bis nichts mehr geht, rien ne va plus, game over.

Die Nacht wird heller, es geht auf den Morgen zu, bald steht das Kind auf und muss zur Schule, auch wenn es keine Lust dazu hat. Dieses Mal hat man genau besprochen, wer das Kind abholt, am Tag zuvor, dem ersten Schultag, passierte es irgendwie, dass niemand daran dachte und das Kind eine Stunde im Schul-Sekretariat warten musste, und als es endlich abgeholt wurde, sagte es: „Ihr habt mich vergessen und ich hatte die Nerven voll!“, und man lacht darüber, auch wenn’s gar nicht so lustig ist, aber eigentlich wieder schon, und dann geht man schlafen, das Kind ist ja zu Hause.

Donnerstag, 9. August 2007

Mitternachtsparty mit rosa Zuckerguss

Der zweite Abend bei J. fühlt sich an wie eine Mitternachtsparty mit rosa Zuckerguss aus Ruhrpott-Slang. Irgendwo zwischen geschnittenen Pfifferlingen und dem rosa Hackfleisch steht Bier und Wein, mit dem das Kind gefeiert wird, das gerade eingeschult wurde und schon auf der Couch liegt und schläft, der Lärm auf Klassenfahrt-Niveau prallt an ihr ab. Sie sind alle gekommen, die Freunde von J., die auch die Freunde des Kindes sind, nur ihr Vater nicht, dafür seine Frau, und das ist das Brisanz-Tüpfelchen auf dem i des Abends. Sie ist blond und herzlich, und das war sie auch damals, als sie vor sieben Jahren erfuhr, dass ihr Mann nicht nur fremdgegangen war, sondern auch eine 18-Jährige geschwängert hatte. Sie war nicht wütend, sie verbannte Wut und Traurigkeit und streichelte J. über den Bauch, anstatt sie zu hassen, anstatt darüber zu wüten, dass ihr Mann jedes Klischee bedient und sie gegen ein jüngeres Modell ausgetauscht hatte. Sieben Jahre später sitzt man im rotweingeschwängerten Raum und mag sich, die Vergangenheit ist verwischt und alte Schmerzen zerschnitten.

„Wer kuschelt mit mir?“, ruft J. in den Nachmittag, und alle treffen sich in dem roten Schlafzimmer, wo die Zigarette reihumgeht, bis alle kichern und sich erneut wie auf Klassenfahrt fühlen, 20 Quadratmeter mit vier Erwachsenen, die ihre kindlichen Seelen unter der Satin-Bettwäsche vergraben, und wenig später legen sich auch das Kind und der Hund dazu, wir sind zusammen und atmen uns gleichmäßig in den Schlaf, während irgendein Film uns wortgewandt betört.

Der Liegestuhl auf dem Balkon ist klamm, aber ich liege unter der Decke und starre in die Nacht, ich will die Lider nicht flattern lassen, da sonst die Tränen rinnen, aber es ist zu viel Flüssigkeit, sie muss raus und die Nacht nässen. Es riecht nach Regen, die Luft hängt schwer und ich ziehe die Beine ganz nah an mich ran, damit mich die feuchte Nacht nicht erschlägt. Gebettet auf Gedankenfetzen hadere ich mit mir, ich mag mich nicht, wie können mich andere dann mögen? Ein Leben ist der Zusammenprall von banalen Katastrophen, erinnere ich mich an ein Film-Zitat, und es gibt eben Katastrophen, die passieren und verändern und wortlos sind. Wenn man sich selbst nicht leiden kann, wohnt es sich schlecht in einer Seele, und wenn die Seele verstummt, dann muss man sie ruhen lassen im wortlosen Nirvana, das in Traurigkeit schwimmt.

Man sucht eine Kerze und schmiegt sich aneinander, A. ist traurig und denkt an damals, als sie auf eine Katastrophe prallte und alles anders wurde. J. zündet die Kerze an, und wir denken an Emma, zu dritt und schweigend, und als es zu regnen anfängt, lachen wir uns unbeholfen an, weil das Bier wieder mal ausgeht, und trinken Wein aus bauchigen Gläsern. Man kennt sich nicht lange, ein Jahr vielleicht, aber man gehört zusammen, ein Band, das unzerschneidbar ist, weil es Herzen aneinanderheftet, hier, wo jeder sein kann wie er ist und aufgefangen wird von der Kraft der anderen. Bei J. zu sein ist wie Heimkommen in ein Zuhause, von dem man immer geträumt hat.

„Ich will nicht schlafen“, sagt K., die um zehn noch immer durch den Abend hüpft und das Bett verweigert. „Du musst morgen in die Schule“, antwortet man, doch das Kind hat kein Interesse. „Hab ich morgen kein Wochenende? Da hab ich mir ja was Schönes eingebrockt mit der Schule“, sagt sie empört und setzt hinzu. „Das ist nicht fair! Ihr bleibt den ganzen Tag zu Hause und schlaft, und ich muss in die Schule“, und Lachen perlt in mir auf, gackerig und kindisch und herrlich warm.

Ey, sagte J. mit zerknitterten Lidern, als wir morgens zerfeiert wach werden und das Kind mühsam wach rütteln, und mehr als Ey habe auch ich nicht zu sagen, die erste Nacht bei J. klebt noch an meinen Wimpern, den langen und schwarzen. Aufregung liegt in der Luft, der erste Tag in der Schule steht an, doch das Kind ist noch cool und unberührt, während J. ein bisschen wehmütig ist. Eine Stunde später ist die Coolness von K. verschwunden, sie ist Kind und klein und klammert sich an J., die mit sich und dem Großwerden ihrer Tochter kämpfen muss, denn auch eine Schulkind-Mama hat viele Tränen.

Der zweite Abend bei J. fühlt sich an wie eine Mitternachtsparty mit rosa Zuckerguss aus Ruhrpott-Slang. Ey, ischliebdisch, denke ich, als ich wieder in der glatten Satin-Bettwösche neben J. einschlafe und wir monoton atmen, ein und aus und gleichzeitig, weil wir eine Seele haben, die sich im Schlaf umschlingt, und so soll es auch sein, solange es geht.

Mittwoch, 8. August 2007

Klassenfahrt auf Speed

Der erste Abend bei J. fühlt sich an wie eine Klassenfahrt auf Speed in den Osten, obwohl man sich im Westen trifft. Alles in Zeitlupe und trotzdem auf Überholspur, alles in Spektralfarben und doch ohne Licht. Es sind fremde Gesichter, die sich mustern, fremde Geschichten, die sich gleichen, fremde Gemeinsamkeiten, die sich vereinen. Niemand spielt Flaschen drehen, aber die Luft ist kindisch und die zwei Quadratmeter Balkon sind ein Wirrwarr aus verknoteten Beinen, die sich unter einer haarigen Decke berühren und zurückziehen. Die raue Mauer drückt in den Rücken, jemand fragt nach einem Kissen, aber aufstehen ist zu mühsam, man verharrt beinahe bewegungslos in der rauchigen Nacht. In der Mitte eine kleine Kerze, die dicke Zigarette geht reihum, und die Reste aus dem Kühlschrank werden geteilt, ein bisschen Wodka, ein bisschen Weinbrand, das Bier ist längst alle. Die Pupillen sind müde, die Lider flattern, das Lächeln wird breiter, denn man redet über Sex, alle durcheinander, alle schlüpfrig, und im Nebenzimmer schläft die 6-Jährige, die morgen eingeschult wird, neben dem Säugling mit den offenen Augen. Ein Hauch Kindlichkeit liegt in der Luft, man fühlt sich jung und leicht, obwohl jeder eine andere Traurigkeit versteckt, der eine ist unglücklich verliebt, die andere komplexbehaftet, die nächste magersüchtig, die dritte vielleicht schwanger. Die Wangen färben sich rosa, obwohl es dunkel ist, und Asche ist überall, auf der Decke, unter der Decke, an den Klamotten, in den Augen. Kichern perlt über die promilleleichten Stimmbänder, als man ängstlich gackernd brüllt „Daddy kommt!“, und beinahe hat man vergessen, dass man erwachsen ist, dass Daddy ruhig kommen kann, aber es fühlt sich nach Altweibersommer und Ferienlager an, nach Erwischt werden und Strafe bekommen, auch wenn Daddy grinst und sich einen Wodka einschenkt. Daddy heißt Daddy, obwohl er nicht der Daddy von der 6-Jährigen ist, sondern ihr Großvater, aber das spielt keine Rolle, seine Tochter war selbst ein Kind, als das Kind geboren wurde. Morgen also der Tag der Einschulung, J. ist still unter der Decke und sucht eine Schulter zum Anlehnen, sie nimmt meine. Mitten in der Leichtigkeit der Nacht geht nun die Traurigkeit neben dem Mond auf, und die Sturheit des alten Mannes macht mich wütend. Irgendwo unter der griesgrämigen Miene verdörrt sein Herz, trunken gemacht von zu vielen Stunden beim Stammtisch, er bockt, blökt, beißt. Irgendwann, da kaufte er ein Kleid für die 6-Jährige, herrlich altmodisch, schrecklich verziert, aber er bezahlte mit Liebe, nicht mit Geld. „Das Kleid ist frisch gebügelt“, murmelt er, und J. antwortet: „Ich brauch morgen nicht das Kleid, ich brauche dich“, doch Daddy schweigt und streikt. „Wenn M. kommt, dann komme ich nicht“, sagt er störrisch und wischt seine Tochter von seinem Herzen. Zu viele Befindlichkeiten, zu viele Ichbezogenheiten, zu viele Vergangenheiten hindern den alten Mann daran, seine Enkelin an ihrem ersten Schultag zu begleiten. Der Neue seiner Exfrau kommt ja auch, deshalb geht er nicht hin, er erklärt es aber niemanden, auch nicht der 6-Jährigen, die heute strahlend ihre Schultüte in der Hand hielt und nach ihrem Großvater fragte, der vermutlich traurig war, irgendwoanders, mit einem Glas in der Hand und Eiswürfeln unter der Haut. Der erste Abend bei J. fühlt sich an wie eine Klassenfahrt auf Speed in den Osten, obwohl man sich im Westen trifft, wo auch eine Mauer steht, die weg muss.

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Nella Niemandsland - 10. Jan, 00:58
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DrYes - 17. Apr, 01:01

Die Vergangenheit im Niemandsland

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