Hochmut kommt vor dem Herbst
Niemals zuvor habe ich den Wechsel der Jahreszeiten so stark gespürt, noch nie zuvor den Sommer so sehr vermisst, das Gefühl von Sonnenbrand auf Haut und Herz, der sachte schmerzt, aber keine Narben hinterlässt, nur Erinnerungen an laue Nächte, in denen die Wärme nie vergeht. Letztes Jahr im Frühling erlebte ich den Sommer, doch als er dann kam, erkannte ich ihn nicht, Hochmut kommt vor dem Herbst, und da war schon Winter, viel zu früh, viel zu kalt, mit Eismännern unter der Haut und keinem Sonnenbrand in Sicht, dafür Narben und keinen Erinnerungen, die mich frieren ließen.
Vor 365 Tagen wurde ich in eine neue Welt geboren, die ich mir selbst geschaffen, gebastelt, gezeugt hatte. Die letzte Nacht verschwimmt, obwohl ich sie spüren kann, sie war wunderbar und wehmütig zugleich, obwohl Freude und Schmerz Hand in Hand gingen, ohne sich zu berühren. Erinnerst du dich auch? Zwei Liter Federweißer und eine Castingshow im Fernsehen, die Wohnung hallte vor lauter Leere, die unzähligen Kisten bereit für die lange Reise, und dazwischen die alte, grünsamtene Couch, auf der wir saßen und unsere Unsicherheit vertranken und verlachten, in dieser letzten Nacht, die uns vereinte, mein Kopf an deiner Schulter und dieses grenzenlose Vertrauen, trotz der Grenze, die wir Wochen zuvor gezogen hatten, und mein lauter Husten, der durch die Wohnung bellte, und deine Bemühungen, eine Nachtapotheke zu finden, um mir Schlaf zu schenken, und wer hätte gedacht, dass eine Woche später eine blonde Ärztin mit Brille mich rügte und Bettruhe verordnete, weil mit einer doppelte Lungeninfektion nicht zu spaßen sei? Am Tag danach dein langer Blick, der kalte Kaffee in der Septembersonne, und die Minuten, die rasten, viel zu schnell, ein Nebeneinander im Taxi, ein letzter Händedruck, und dann war ich über den Wolken und auf dem Weg in mein neues Leben, in dem du keinen Platz hattest. Und Stunden später der laue Altweibersommerabend auf meinem Balkon, mit Pizza Salami, Prosecco und vier Umzugsmännern, die meine Kisten in die verstaubte Wohnung trugen, die meine neue Welt wurden.
Manchmal vermisse ich es zu sehr. Den Platz, den ich frei geräumt habe, der so vertraut, verseelt und verherzt war, und manchmal sehne ich mich zurück. In die vergangene Stadt, an deine Seite, die schwer, aber schön zu ertragen war. Aber es gibt Entscheidungen, die man treffen muss, ohne das Ziel des anderen Weges zu kennen, und wäre ich den leichteren Weg gegangen, gestanden und geblieben, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin – zwei Schritte nach vorne, vier zurück. Zwar zaghaft und zögernd, aber voller Zukunft und Hoffnung, das zu finden, was ich aufgegeben habe. Einen Coffeeshop, in dem ich morgens ohne Worte meinen Milchkaffee to go bekomme, einen Frisör, der mich schweigend schön macht und dabei Prosecco serviert, einen Obsthändler, der mir weniger Himbeeren verrechnet, als er einpackt, einen Sushi-Mann, der weiß, dass ich keine Gurken mag, einen Rosenverkäufer, der mir einmal im Monat eine Blume schenkt, und einen Mann, der mir so vertraut ist wie ich mir selbst.
Heimat, sie liegt in der Vergangenheit, auch wenn ich sie hier suche, Heimat, mit vertrauten Gesichtern, die ich nicht kenne, die mich aber täglich streifen, ich sehne mich nach ihnen. Und nach einer starken Schulter, die mich auffängt, wenn ich keine Worte finde, wenn die Stimmung so schnell wechselt wie die Jahreszeiten oder meine Laune, so wie vorhin auf der Straße, auf dem Weg ins Schwimmbad, als es immer dunkler und düsterer wurde, der Himmel so traurig wie meine dünne Haut, und wieder traf ich eine Entscheidung, derer ich mir nicht sicher bin, statt schwimmen zu gehen, holte ich zwei Flaschen Prosecco, und nun sitze ich hier, greife nach den Erinnerungen, den alten, und trinke viel zu schnell.
Ich vermisse die Sicherheit, die ich mal hatte, und die Sorglosigkeit, die ich immer vortäuschte, aber vielleicht muss ich neben Unsicherheit und Sorgen schlafen, bis sie sich miteinander versöhnen, und das wird erst passieren, wenn ich mich mit mir versöhne. Und das ist das Schwerste. Sich selbst zu verzeihen, wenn es so viel gibt, das man verabscheut, wenn man sich im Spiegel in die Augen sieht. Vielleicht bin ich ein besserer Mensch geworden, seit ein paar Jahreszeiten gewechselt haben. Aber vielleicht brauche ich auch noch einen Winter, Frühling, Sommer, Herbst, um mir in die Augen sehen zu können. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie lässt einen vergessen, dass es einmal einen Sommer gab, in dem Hochmut vor dem Herbst kam.
Vor 365 Tagen wurde ich in eine neue Welt geboren, die ich mir selbst geschaffen, gebastelt, gezeugt hatte. Die letzte Nacht verschwimmt, obwohl ich sie spüren kann, sie war wunderbar und wehmütig zugleich, obwohl Freude und Schmerz Hand in Hand gingen, ohne sich zu berühren. Erinnerst du dich auch? Zwei Liter Federweißer und eine Castingshow im Fernsehen, die Wohnung hallte vor lauter Leere, die unzähligen Kisten bereit für die lange Reise, und dazwischen die alte, grünsamtene Couch, auf der wir saßen und unsere Unsicherheit vertranken und verlachten, in dieser letzten Nacht, die uns vereinte, mein Kopf an deiner Schulter und dieses grenzenlose Vertrauen, trotz der Grenze, die wir Wochen zuvor gezogen hatten, und mein lauter Husten, der durch die Wohnung bellte, und deine Bemühungen, eine Nachtapotheke zu finden, um mir Schlaf zu schenken, und wer hätte gedacht, dass eine Woche später eine blonde Ärztin mit Brille mich rügte und Bettruhe verordnete, weil mit einer doppelte Lungeninfektion nicht zu spaßen sei? Am Tag danach dein langer Blick, der kalte Kaffee in der Septembersonne, und die Minuten, die rasten, viel zu schnell, ein Nebeneinander im Taxi, ein letzter Händedruck, und dann war ich über den Wolken und auf dem Weg in mein neues Leben, in dem du keinen Platz hattest. Und Stunden später der laue Altweibersommerabend auf meinem Balkon, mit Pizza Salami, Prosecco und vier Umzugsmännern, die meine Kisten in die verstaubte Wohnung trugen, die meine neue Welt wurden.
Manchmal vermisse ich es zu sehr. Den Platz, den ich frei geräumt habe, der so vertraut, verseelt und verherzt war, und manchmal sehne ich mich zurück. In die vergangene Stadt, an deine Seite, die schwer, aber schön zu ertragen war. Aber es gibt Entscheidungen, die man treffen muss, ohne das Ziel des anderen Weges zu kennen, und wäre ich den leichteren Weg gegangen, gestanden und geblieben, dann wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin – zwei Schritte nach vorne, vier zurück. Zwar zaghaft und zögernd, aber voller Zukunft und Hoffnung, das zu finden, was ich aufgegeben habe. Einen Coffeeshop, in dem ich morgens ohne Worte meinen Milchkaffee to go bekomme, einen Frisör, der mich schweigend schön macht und dabei Prosecco serviert, einen Obsthändler, der mir weniger Himbeeren verrechnet, als er einpackt, einen Sushi-Mann, der weiß, dass ich keine Gurken mag, einen Rosenverkäufer, der mir einmal im Monat eine Blume schenkt, und einen Mann, der mir so vertraut ist wie ich mir selbst.
Heimat, sie liegt in der Vergangenheit, auch wenn ich sie hier suche, Heimat, mit vertrauten Gesichtern, die ich nicht kenne, die mich aber täglich streifen, ich sehne mich nach ihnen. Und nach einer starken Schulter, die mich auffängt, wenn ich keine Worte finde, wenn die Stimmung so schnell wechselt wie die Jahreszeiten oder meine Laune, so wie vorhin auf der Straße, auf dem Weg ins Schwimmbad, als es immer dunkler und düsterer wurde, der Himmel so traurig wie meine dünne Haut, und wieder traf ich eine Entscheidung, derer ich mir nicht sicher bin, statt schwimmen zu gehen, holte ich zwei Flaschen Prosecco, und nun sitze ich hier, greife nach den Erinnerungen, den alten, und trinke viel zu schnell.
Ich vermisse die Sicherheit, die ich mal hatte, und die Sorglosigkeit, die ich immer vortäuschte, aber vielleicht muss ich neben Unsicherheit und Sorgen schlafen, bis sie sich miteinander versöhnen, und das wird erst passieren, wenn ich mich mit mir versöhne. Und das ist das Schwerste. Sich selbst zu verzeihen, wenn es so viel gibt, das man verabscheut, wenn man sich im Spiegel in die Augen sieht. Vielleicht bin ich ein besserer Mensch geworden, seit ein paar Jahreszeiten gewechselt haben. Aber vielleicht brauche ich auch noch einen Winter, Frühling, Sommer, Herbst, um mir in die Augen sehen zu können. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie lässt einen vergessen, dass es einmal einen Sommer gab, in dem Hochmut vor dem Herbst kam.
Nella Niemandsland - 28. Sep, 19:57
- Rubrik:
2302 x gelesen - 6 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Nella Niemandsland - 28. Sep, 20:16
Ach ...
... du liebe Testsiegerin, das sagst AUSGERECHNET du? :-)
Wie wär's, wenn wir beide mal eine Blog-Lesung organisieren? Du als Frau mit unglaublichem Lebensmut, und ich als depressives Wasweißich :-)
Und: Mein neu geborenes Leben seit 365 Tagen ist ja ganz in deiner Nähe, warum also eigentlich nicht ... :-)
Dicken Kuss an dich und vielen Dank fürs Kompliment - so etwas tut VERDAMMTNOCHMAL gut :-)
Wie wär's, wenn wir beide mal eine Blog-Lesung organisieren? Du als Frau mit unglaublichem Lebensmut, und ich als depressives Wasweißich :-)
Und: Mein neu geborenes Leben seit 365 Tagen ist ja ganz in deiner Nähe, warum also eigentlich nicht ... :-)
Dicken Kuss an dich und vielen Dank fürs Kompliment - so etwas tut VERDAMMTNOCHMAL gut :-)
Sprachspielerin - 28. Sep, 23:34
Sehr, sehr schön und sehr gut! Danke!
'Hochmut kommt vor dem Herbst' würde ich am liebsten stehlen...
'Hochmut kommt vor dem Herbst' würde ich am liebsten stehlen...
DrYes - 29. Sep, 01:44
Ob ich mich erinnern kann? Einen solchen Abend und Morgen danach kann man nicht vergessen, will man auch nicht. Vor allem, wenn man ein Jahr später erfreut fühlen darf, dass auf Trennung und Abstand wieder Nähe folgte, wenn auch eine andere.
Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen. Außerdem hast du alles so schön beschrieben, dass ich mich gar nicht trauen würde, dem mit meinen unbeholfenen Mitteln kurz vor zwei in einer gefängnisartigen Zelle im Ibis-Bahnhofshotel noch was hinzuzufügen. ;-)
Nur eins: Haben wir uns im Taxi damals wirklich nur mit einem Händedruck verabschiedet? Das käme mir von allem am fremdesten vor. Bussi! :-)
Mehr kann ich im Moment dazu nicht sagen. Außerdem hast du alles so schön beschrieben, dass ich mich gar nicht trauen würde, dem mit meinen unbeholfenen Mitteln kurz vor zwei in einer gefängnisartigen Zelle im Ibis-Bahnhofshotel noch was hinzuzufügen. ;-)
Nur eins: Haben wir uns im Taxi damals wirklich nur mit einem Händedruck verabschiedet? Das käme mir von allem am fremdesten vor. Bussi! :-)
Trackback URL:
https://niemandslandtage.twoday.net/stories/4303748/modTrackback