Eismänner im Februar
Immer, wenn sie an dem kleinen Friedhof vorbei geht, spricht sie mit ihm. Sie bleibt nie stehen, geht monoton ihre Schritte, aber im Vorbeilaufen späht sie über die Friedhofsmauer und vermutet, wo das Grab in der Dunkelheit liegt. Sie war bisher erst zwei Mal dort, an diesem kalten Tag im Februar, als ihre schwarzen Stiefel im Pulverschnee einsackten und die Stimme des Pfarrers von der Ferne ertönte, und ein Jahr danach, an einem Februartag ohne Schnee, aber mit Eismännern, als es still war um das Grab und nur eine Handvoll Menschen gekommen waren, um ein paar Tropfen Weihrauch auf das gefrorene Grab zu sprenkeln.
„Ich gehe jetzt zu deiner Familie“, murmelt sie jedes Mal, wenn sie an der Friedhofsmauer vorbeiläuft, „ich passe auf alle auf“, und es ist ihr seltsam zumute, ein bisschen wehmütig, ein bisschen froh, ein bisschen rührselig. „Ich werde deine Frau umarmen und für deine Kinder da sein“, sagt sie jedes Mal, wenn sie in der Dunkelheit durch die schmale Gasse geht und sich erinnert, an den großen, schlaksigen Mann, an manche Zornausbrüche, an schallendes Lachen, an eine sonore Stimme, voller Tatendrang und Melodie. Musik war sein Leben, denkt sie, und er hat Musik hinterlassen. Ein Lied der Sehnsucht, das seine Familie singt, jeden Tag, mal ohne Töne, mal mit einem Orchester, pompös und engelsgleich, und manche Noten hören sie nicht, weil sie zu traurig sind.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, sang er an seinem letzten Weihnachtsfest voller Sehnsucht, als sein Körper ihm Streiche spielte und er vielleicht fühlte, was kommen wird. Seine Familie wärmte ihn mehr als die Kerzen, die brannten, und er erinnerte sich wehmütig an vergangene Zeiten, als er kilometerweit im See schwamm, mit den Freunden seiner Kinder Fußball spielte und noch nicht gefangen war in einer Krankheit, die ihn zerbrechlich und schwach machte. „Ich wäre so gern der Fußball-Opa“, sagte er seiner ältesten Tochter mit wässrigen Augen, und sie brachte ihr Herz zum Schweigen und tröstete ihn. „Schau, du bist der Vorlese-Opa, das ist doch auch schön“, beruhigte sie ihn und fühlte eine Traurigkeit in sich aufsteigen, die nie mehr verging.
„Geht ihr heute Abend noch aus?“, fragte er eines Abends, als sie ihn gerade erst kennen gelernt hatte, damals, in einem Winter der Veränderung, als sie gerade mal siebzehn war und seine älteste Tochter ihre beste Freundin wurde. Sie kicherten heimlich über seine Formulierung, sagten „Er spricht ein bisschen altbacken, oder?“ und antworteten: „Wir gehen nicht aus, wir gehen in die Stadt“. Damals war er in den Fünfzigern und nannte weggehen „ausgehen“, was ihnen komisch vorkam, aber seine Sprache war und ihn zu dem machte, was er war.
Er konnte aufbrausen wie eine Sirene, laut und jähzornig, aber er meinte es nie böse. Seine Erwartungen an seine vier Kinder waren so groß, dass niemand sie erreichen konnte, deshalb brach es oft aus ihm heraus, wie ein Gewitter, das schnell wieder verging. Er hatte wache Augen, mit denen er alles sah, auch das, was er nicht sehen sollte, und wenn er eine Geschichte erzählte, dann musste man ihm zuhören, es war Magie und Anziehung zugleich.
Es war im Januar, als seine Bewegungen nicht mehr so wollten wie er und ihn zu Fall brachten, und das viele Blut auf dem weißen Teppich im Wohnzimmer zeigte seinen Töchtern, dass nur noch die Rettung ihn retten konnte. „Meinem Papa geht es sehr schlecht“, schrieb ihre beste Freundin, und sie bekam Angst, tausend Kilometer von ihr entfernt. Sah den Mann vor sich, zu dem sie immer aufgesehen hatte, mit dem sie ihre Zwanziger verbracht hatte, und eine kalte Hand griff nach ihrem Herz. Ob es eine Ahnung war oder nur das Gefühl, für ihre Freundin da zu sein, sie fuhr nach Hause und hörte zu. Nahm in den Arm, hielt Hände, sprach Gebete.
Es war Sonntag und Eismänner zogen auf, als sie in einer Bar auf ihre Freundin wartete, die aber nicht kam. „Wo bleibst du?“ schrieb sie ihr eine Nachricht, und kurz darauf antwortete sie: „Bin im Krankenhaus. Kann jetzt nicht“, und als sie eine Stunde später durch die Tür kam, war sie traurig und weinte. Der Kellner stellte zwei große Gläser vor die beiden, und sie redeten, schwiegen, hielten Hände. Beim fünften Bier fand ihre Freundin ihre Fassung wieder, und sie sagte: „Dein Papa ist zäh. Er wird kämpfen“, und ihre Freundin sah sie mit blanken Augen an und nickte zaghaft.
Kurz vor Mitternacht betraten die Eismänner die Bar. Das rosarote Telefon der besten Freundin klingelte, und es wurde kalt. Ihre Augen wurden groß, als sie der lautlosen Stimme lauschte, und ihr Schmerz war noch größer, als sie ohne Mantel die Bar verließ in ein neues Leben, das mit dem Tod begann.
„Ich gehe jetzt zu deiner Familie“, murmelt sie jedes Mal, wenn sie an der Friedhofsmauer vorbeiläuft, „ich passe auf alle auf“, und sie wird es weiterhin sagen und weiterhin tun, denn sein Wesen, seine Augen, sein Lachen stecken in seinen Kindern, und auch wenn diese Kinder längst groß sind, brauchen sie jemanden, der auf sie aufpasst, weil es der große, schlaksige Mann nicht mehr kann, obwohl seine Melodie noch immer über dem Friedhof spielt.
„Ich gehe jetzt zu deiner Familie“, murmelt sie jedes Mal, wenn sie an der Friedhofsmauer vorbeiläuft, „ich passe auf alle auf“, und es ist ihr seltsam zumute, ein bisschen wehmütig, ein bisschen froh, ein bisschen rührselig. „Ich werde deine Frau umarmen und für deine Kinder da sein“, sagt sie jedes Mal, wenn sie in der Dunkelheit durch die schmale Gasse geht und sich erinnert, an den großen, schlaksigen Mann, an manche Zornausbrüche, an schallendes Lachen, an eine sonore Stimme, voller Tatendrang und Melodie. Musik war sein Leben, denkt sie, und er hat Musik hinterlassen. Ein Lied der Sehnsucht, das seine Familie singt, jeden Tag, mal ohne Töne, mal mit einem Orchester, pompös und engelsgleich, und manche Noten hören sie nicht, weil sie zu traurig sind.
„Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, sang er an seinem letzten Weihnachtsfest voller Sehnsucht, als sein Körper ihm Streiche spielte und er vielleicht fühlte, was kommen wird. Seine Familie wärmte ihn mehr als die Kerzen, die brannten, und er erinnerte sich wehmütig an vergangene Zeiten, als er kilometerweit im See schwamm, mit den Freunden seiner Kinder Fußball spielte und noch nicht gefangen war in einer Krankheit, die ihn zerbrechlich und schwach machte. „Ich wäre so gern der Fußball-Opa“, sagte er seiner ältesten Tochter mit wässrigen Augen, und sie brachte ihr Herz zum Schweigen und tröstete ihn. „Schau, du bist der Vorlese-Opa, das ist doch auch schön“, beruhigte sie ihn und fühlte eine Traurigkeit in sich aufsteigen, die nie mehr verging.
„Geht ihr heute Abend noch aus?“, fragte er eines Abends, als sie ihn gerade erst kennen gelernt hatte, damals, in einem Winter der Veränderung, als sie gerade mal siebzehn war und seine älteste Tochter ihre beste Freundin wurde. Sie kicherten heimlich über seine Formulierung, sagten „Er spricht ein bisschen altbacken, oder?“ und antworteten: „Wir gehen nicht aus, wir gehen in die Stadt“. Damals war er in den Fünfzigern und nannte weggehen „ausgehen“, was ihnen komisch vorkam, aber seine Sprache war und ihn zu dem machte, was er war.
Er konnte aufbrausen wie eine Sirene, laut und jähzornig, aber er meinte es nie böse. Seine Erwartungen an seine vier Kinder waren so groß, dass niemand sie erreichen konnte, deshalb brach es oft aus ihm heraus, wie ein Gewitter, das schnell wieder verging. Er hatte wache Augen, mit denen er alles sah, auch das, was er nicht sehen sollte, und wenn er eine Geschichte erzählte, dann musste man ihm zuhören, es war Magie und Anziehung zugleich.
Es war im Januar, als seine Bewegungen nicht mehr so wollten wie er und ihn zu Fall brachten, und das viele Blut auf dem weißen Teppich im Wohnzimmer zeigte seinen Töchtern, dass nur noch die Rettung ihn retten konnte. „Meinem Papa geht es sehr schlecht“, schrieb ihre beste Freundin, und sie bekam Angst, tausend Kilometer von ihr entfernt. Sah den Mann vor sich, zu dem sie immer aufgesehen hatte, mit dem sie ihre Zwanziger verbracht hatte, und eine kalte Hand griff nach ihrem Herz. Ob es eine Ahnung war oder nur das Gefühl, für ihre Freundin da zu sein, sie fuhr nach Hause und hörte zu. Nahm in den Arm, hielt Hände, sprach Gebete.
Es war Sonntag und Eismänner zogen auf, als sie in einer Bar auf ihre Freundin wartete, die aber nicht kam. „Wo bleibst du?“ schrieb sie ihr eine Nachricht, und kurz darauf antwortete sie: „Bin im Krankenhaus. Kann jetzt nicht“, und als sie eine Stunde später durch die Tür kam, war sie traurig und weinte. Der Kellner stellte zwei große Gläser vor die beiden, und sie redeten, schwiegen, hielten Hände. Beim fünften Bier fand ihre Freundin ihre Fassung wieder, und sie sagte: „Dein Papa ist zäh. Er wird kämpfen“, und ihre Freundin sah sie mit blanken Augen an und nickte zaghaft.
Kurz vor Mitternacht betraten die Eismänner die Bar. Das rosarote Telefon der besten Freundin klingelte, und es wurde kalt. Ihre Augen wurden groß, als sie der lautlosen Stimme lauschte, und ihr Schmerz war noch größer, als sie ohne Mantel die Bar verließ in ein neues Leben, das mit dem Tod begann.
„Ich gehe jetzt zu deiner Familie“, murmelt sie jedes Mal, wenn sie an der Friedhofsmauer vorbeiläuft, „ich passe auf alle auf“, und sie wird es weiterhin sagen und weiterhin tun, denn sein Wesen, seine Augen, sein Lachen stecken in seinen Kindern, und auch wenn diese Kinder längst groß sind, brauchen sie jemanden, der auf sie aufpasst, weil es der große, schlaksige Mann nicht mehr kann, obwohl seine Melodie noch immer über dem Friedhof spielt.
Nella Niemandsland - 27. Mai, 16:36
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