Montag, 14. Mai 2007

Wann schreibst du wieder was?

J. hat sich eingenistet in meine Geschichten. „Wann schreibst du wieder was?“ fragt sie gestern um kurz nach Mitternacht. „Wann schreibst du wieder was?“ schreibt sie heute Morgen um neun. „Wann schreibst du wieder was?“, will sie am Nachmittag wissen, während sie nebenbei ins Leere tippt. Ich warte, bis die Straßenbahn unter meinem Fenster vorbeigefahren ist, lache leise und tippe selbst ins Leere: „Eine gute Geschichte muss mich finden, nicht ich sie“, sage ich und ziehe an meiner Zigarette. „Außerdem kann ich nicht immer über dich schreiben“, murmle ich, „das langweilt die paar Leser, die bei mir vorbei schauen.“ – „Warum nicht?“ fragt sie, und ich denke: „Warum eigentlich wirklich nicht?“

Ich schreibe gerne über sie, weil sie viele Geschichten erzählt, auch wenn sie die wenigsten davon ausspricht. Ich mag Geschichten, und besonders ihre. Sie handeln von verlorenen geglaubten Träumen und gefundenen Sehnsüchten, von verlassenen Menschen und entdeckten Freunden, von absurden Ideen und abstrusen Hirngespinsten. „Du bist geistesgestört“, sage ich ihr mindestens ein Mal am Tag, und sie lacht ihr hohles Katzenlachen und erwidert feixend: „Selber, du Drecksstück!“.

„Ich werde die Urnen meiner Großeltern ausbuddeln“, sagt sie gestern und kichert hell wie ihre 6-jährige Tochter, die meistens zu mir sagt: „Mama schläft, aber ich kann mit dir reden. Was gibt es Neues?“ Sie fragt wie eine Erwachsene, und das ist sie wahrscheinlich auch, dieses kleine Mädchen mit dem großen Verstand, das mir am Telefon sagte, was sie traurig macht, ehe ich sie erstmals durch die Luft wirbeln konnte, damals an dem Freitag im Westen, als sie mich mit fragenden Augen kennen lernte.

„Dafür gibt’s bis zu drei Jahre Gefängnis“, sagt ihr bester Freund im Hintergrund, „Grabschändung wird hart bestraft“, aber J. wischt seine Bedenken fort wie ein Staubkorn. „Für Romantik gehe ich ins Gefängnis, und ich will dass meine Oma und mein Opa zusammen sind.“ J. scheut keine Risiken, wozu auch? Wenn sie brennt, dann richtig, lichterloh und lustig lachend. Konsequenzen sind ihr egal, und die Urne ihrer Oma hat sie schon einmal ausgebuddelt, damals, als sie neunzehn war und solch süße Sehnsucht verspürte, nach der Oma, die mehr Mutter war und der sie nah sein wollte, damals an dem Herbsttag mit den verregneten Stunden. Ihre Mutter, eine große Frau mit kaltem Herzen, war es damals, die sagte: „Grab sie wieder ein!“, und J. hörte auf sie, eines der wenigen Male, dass ihre Mutter siegte. „Ob mein Opa noch da unten ist?“ fragt J. mich, und ich kann es ihr nicht sagen, wer weiß schon, ob eine Urne 42 Jahre lang gegen die Verwesung ankämpft?

J. ist wie Granit, hart, vielschichtig und grau-schimmernd bis unter die Haut. Sie verabscheut Lügen, ob dick oder dünn. „Lieber eine Wahrheit, die weh tut, als eine Lüge, die rauskommt“, sagt sie und selektiert chancenlos. Sie wirft Menschen aus ihrem Leben, ohne ihnen nachzuweinen, einfach so, und manchmal habe ich Angst, dass ich auch gehen muss, irgendwann in naher Ferne – und sein muss ohne sie und ihre Geschichten von verlorenen geglaubten Träumen und gefundenen Sehnsüchten.

Ich habe wieder über J. geschrieben. Und ich werde es noch mal tun. Bleiben Sie trotzdem im Niemandsland?

Drei Mal an der Bar

1.
Meine Freundin J. und ich an der Bar. Unser Blick ist zwar glasig, aber unser Verstand noch scharf. Ein nichts sagender, aber alles labernder Typ in durchgesessenen Jeans versucht, sich in Szene zu setzen. Rutscht auf seinem Barhocker immer weiter nach rechts, bis sein Oberschenkel meinen streift und ich ihm nur noch die Nase brechen will. Biergeschwängerte Worte, die seine Vorzüge anpreisen sollen, keines davon will ich hören. Beendet seinen Redefluss mit „Weißt du, ich bin ein Realist“. Ich hebe eine Augenbraue und sage: „Warum sitzt du dann noch neben mir?“

2.
Meine Schwester M. und ich an der Bar. Drängen uns durch Menschen mit Schweißflecken und ordern lauwarmes Bier. Der Typ neben ihr, der sich viel zu eng an sie drängt und den kahl geschorenen Kopf debil im House-Rhythmus bewegt, bezahlt seines, nimmt das Wechselgeld, redet mit jemandem. Verharrt in der Bewegung und versperrt uns die Bar. Labernd, mit ausgestreckter Hand und Kleingeld auf der offenen Handfläche. Meine Schwester greift beherzt zu. Da regt sich der Typ aus seiner Trance und brüllt in Proll-Berlinerisch: „Alte, haste den Arsch offen?“ Meine Schwester zuckt die Achseln und sagt emotionslos: „Nein, aber du die Hand.“

3.
Meine Freundin B. und ich an der Bar. Neben uns zwei Anzugträger, ein bisschen zu glatt, ein bisschen zu rasiert. Der eine mit den braunen Locken und den buschigen Augenbrauen summt die Fahrstuhlmusik im Hintergrund mit und lässt seinen Scotch-Nebel-Blick über die roten Plüschsessel der Bar gleiten, er bleibt an meinen blonden Locken hängen. Lächelt breit, ein wenig dümmlich, wahrscheinlich mag er Frank Sinatra, liest Paulo Coelho und sammelt Miniatur-Ferraris. Er schiebt sich ein paar Meter an der Bar zu mir, mustert mich von oben bis unten. Haucht die Anmachplattitüde „Na?“ und wartet tatsächlich auf Antwort. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und lasse ihn reden. Er sagt „mega“ und „oder so“ und schließt mit „Weißt du, ich steh voll auf Persönlichkeit und so.“ Ich stehe auf und sage: „Dann leg dir doch eine zu!“

Nellas Niemandsland

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