Donnerstag, 10. Mai 2007

Sieben Leben

Sie sagt, sie kann gar nicht so schnell laufen, dass ihr Ruf sie nicht überholt. Dort, in der Kleinstadt im Westen, wo man abends in den Straßen nie jemanden kennen lernt, weil man ohnehin schon alle kennt.

„Du bist doch die Ex von H.“ kommt ein Typ vorbei und grinst schmierig, während J. mit ihren viel zu stark geschminkten Augen trotzig seinem Blick standhält. Sie sieht aus wie eine schwarze Katze, dort oben auf dem Barhocker, mit den langen Beinen, dem stolzen Blick und dem geschmeidigen Lächeln. Kämpfen, sagt sie, hat sie früh gelernt. Damals, als ihre Mutter ihr sagte, dass sie J. nie gewollt hat. Damals, als das Gefühl anfing, nichts richtig zu machen. Damals, als die Leute über sie zu reden begannen.

„Warum ging denn das mit H. auseinander?“, fragt der Typ gierig und glaubt tatsächlich, dass J. ihm antwortet. Sie fixiert ihn lange mit ihren Katzenaugen, leert ihr Glas und bringt ihn mit nur einem Blick zum Schweigen. Er ist einer von vielen, der Fragen stellt, auf die sie keine Antworten mehr gibt, der in die nächste Bar gehen und dort über sie reden wird. „Stellt euch vor, ich hab die Ex von H. getroffen“, wird er sagen und sich Beifall heischend umsehen, die Begegnung ausschmücken, Sensationsgeilheit säen. Und dann werden sie reden und etwas ausgraben, auf dem die Erde längst vertrocknet ist, dort auf dem Friedhof in der Kleinstadt im Westen, wo in manchen Nächten eine Katze einsam wacht.

Sie sagt, es war übermächtig, damals, als sie in dieselbe Bar kam und seine Augen sah. Manche Menschen sind füreinander bestimmt, sagt sie, auch wenn sie sich dagegen wehren. Und sie hat sich gewehrt wie eine Katze, damals, als sie achtzehn war und das Leben schmecken wollte, als ob ihr nichts und niemand etwas anhaben kann. Damals, als sie nicht ahnte, wie schwer krank sie irgendwann sein würde und ihr Leben behandelte, als hätte sie sieben. Doch sie war verloren, als sie in seinen Pupillen den Glanz ihrer Augen sah und erkennen musste, dass sie fiel – und nicht auf den Beinen landete.

Sie durfte ihn nicht lieben, sagt sie, aber sie tat es trotzdem und nicht deswegen. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte sie in ihm ihr Schicksal, sagt sie, von dem sie weiß, dass sie damit alt wird; mit dem Schicksal, nicht mit ihm. Die Liebe war zu groß, um sich zu erfüllen, sagt sie, obwohl es lange gut ging, obwohl der Hass erst kam, als die Liebe noch größer wurde, damals, als er seine Frau verließ und J. ein Kind von ihm bekam. Vor ihrem Ruf kann sie sich nicht verstecken, sagt sie, aber sie hat gelernt, damit zu leben, sie hört nicht mehr hin, wenn irgendjemand sagt: „Schau mal, das ist die Ex von H.“

Eine Liebe kann vorbei gehen, obwohl man immer noch liebt, sagt sie, und obwohl sie erst 25 ist, hat sie den Blick einer alten Frau. Im März wurde ihre Tochter sechs, doch als sie fünf war, weinte sie viel. Wollte nachts nicht schlafen, sah sich lieber ein Foto ihres Vaters an, der nicht anrief, nicht vorbeikam. „Er vermisst mich nicht mal“, sagt sie, „ist das nicht traurig?“, und es gibt keine Worte, die man einer 5-Jährigen sagen kann, die einen Vater vermisst, der nie ein Vater war.

J. ist eine schwarze Katze mit geschmeidigen Augen, die von ihrem Schicksal überholt wird, dort in der Kleinstadt im Westen, in der nachts die Leute aus dem Fenster schauen und wissen, wer sie ist. Sie faucht, sie kämpft, sie beißt. Sie geht aufrecht, hält Blicken stand, wacht über die Nacht. Vielleicht hat sie doch sieben Leben. Sie hat sie verdient, sage ich.

Nellas Niemandsland

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