Donnerstag, 11. Oktober 2007

Herbstzerreißend

maerz-innovationen-rotwein„Hörst du das?“, fragt er und legt den Kopf leicht zur Seite. Zwischen den Fensterbalken schimmert die sternenlose Nacht durch die Scheiben, die dunklen Locken fallen über seine wachen Augen, die suchend durch den Raum gleiten.
„Was meinst du?“, frage ich abwesend, während der dicke Wirt mit einem Besen durch die hintere Stube fegt und ich das Stechen in meiner Brust ignoriere.
„Du hörst das Gras wachsen“, sage ich lächelnd, „oder einen Holzwurm da drinnen“, und deute auf die holzgetäfelten Wände.
„Vielleicht hast du recht“, meint er und sucht ein letztes Mal das Geräusch, der Wirt stellt eine neue Karaffe Rotwein auf den Tisch. „Prost“, murmelt er mit seiner blechernen Bassstimme, wischt einen unsichtbaren Fleck zwischen unseren leeren Gläsern weg und verschwindet in der Küche.
Wir sitzen in dem Landgasthof an diesem kühlen Herbsttag, trinken ein bisschen zu viel Rotwein und schauen uns zu lange nicht an. Der alte Holztisch sieht verlebt aus, er hat Kerben und Narben, die von vergangenen Zeiten erzählen.
„Hörst du das wirklich nicht?“, fragt er und sieht mich endlich an. Ich halte den Blick fest, lausche aufmerksam, doch ich kann nichts hören. Nur mein Herz.
„Irgendetwas knackst hier“, meint er, und ich lächle ihn nachsichtig an, als ob er etwas ganz Dummes gesagt hätte.
„Ich höre wirklich nichts“, wische ich seine Gedanken weg und lenke ab. Spreche über Nichtigkeiten, die den Abstand zwischen uns größer machen und das Geräusch übertönen, das er hört und ich spüre. Der Rotwein macht meinen Mund trocken. Er nickt, hört zu, streicht sich die Locken aus dem Gesicht. Manchmal zieht er mit dem Zeigefinger die Linien auf dem Tisch nach, und ich rauche zu viel, um mich festzuhalten.
„Da ist es schon wieder“, murmelt er plötzlich und lauscht aufmerksam, während sein Blick sich im Raum verliert. Ich zucke mit meinem Herz und gleichgültig mit den Schultern, suche seinen Blick.
„Da ist schon wieder dieses Knacksen“, wiederholt er, weicht mir aus und wacht über das Geräusch, das ihm keine Ruhe lässt.
„Du spinnst“, sage ich und ziehe die Jacke enger um meine Schultern. „Da ist nichts“, und mein Herz rast schneller als meine Gedanken.
Später verabschieden wir uns vor der Holztür mit den Engelschnitzereien, morgen wird es Frost geben hier draußen auf dem Land. Eine flüchtige Umarmung mit Rotweinatem, ein schneller Blick mit flatternden Wimpern und Hände, die sich berühren und in Zeitlupe loslassen.
Mein Blick verliert sich in dem Kartoffelacker, der irgendwo da hinten in der Dunkelheit liegt, und ich fühle mich unvollständig. Irgendwas tut weh. Irgendwas fehlt.
Als es auf Mitternacht zugeht, ist der Landgasthof verlassen. Nur der dicke Wirt geht eine Runde durch den Laden, stellt da einen Stuhl zur Seite, wischt dort ein paar Rotweinflecken von den Holztischen. Er ist müde, der Tag war lang und seine Hüfte schmerzt. Seufzend geht er durch die hintere Stube und will das Licht abdrehen, doch dann stutzt er.
„Was ist das denn …“ murmelt er und geht zu dem Tisch, an dem vorhin noch die beiden Leute aus der Stadt saßen. Er schiebt die Stühle zur Seite, stutzt, schweigt sekundenlang.
„Sachen gibt’s“, sagt er kopfschüttelnd und fegt das zerbrochene Herz unter dem Tisch zusammen.

Nellas Niemandsland

Neurosen, Nettigkeiten & notwendiger Nonsens

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