Freitag, 29. Juni 2007

Madame Marie

Madame Marie war nicht groß gewachsen. Ihr Haar trug sie flachsblond, wie ein Weizenfeld im September, immer eine Spur zu lang, und ihre Nase hockte wie eine kleine Kartoffel mitten in ihrem blassen Gesicht, auf dem die Sommersprossen chancenlos waren. Ihre Augen waren auch mehr blass als blau, und oft fragte sie sich, von wem diese Blässe kam, von der eisernen Mutter oder vom namenlosen Vater. Sie wusste nicht viel, vor allem nicht über ihre Wurzeln, aber das machte ihr nichts, Madame Marie mochte ihr Dasein, so klein es auch schien. Wer braucht schon Wurzeln, wenn er Flügeln hat, sagte sie sich oft und lächelte ihr breites Septemberlächeln, während ihr blasser Blick sich in der Ferne verlor.

Madame Marie mochte die Weite des Feldes hinter ihrer Hütte, und wenn abends die Sonne zwischen den meterhohen Ähren unterging, lag sie oft zwischendrin und suchte Geschichten in den Wolken, die über ihr flogen, das hatte sie schon als Kind getan, um der eisernen Mutter zu entgehen. Deren Küsse schmeckten nämlich nach Einsamkeit, und diese Einsamkeit servierte sie Marie täglich auf einem Löffel, keinem silbernen, er war aus Holz und schmeckte schal und nach Schimmel.

Marie wurde groß, obwohl sie klein war, und ihre Sommersprossen, die keiner sah, erzählten ihre Geschichte. „Engel sind Geschöpfe, die zwischen Gott und den Menschen stehen“, so predigte der Pfarrer jeden Sonntag in der Kirche des Dorfes, mit dem kleinen Kreuz oben drauf, das sich in der Sonne spiegelte, dort, wo Marie ihre ersten Schritte ging, und fragt man sie heute, was ihre jüngste Erinnerung an damals ist, dann ist es der alte Mann auf der Kanzel, mit dem schlohweißen Haar und der samtenen Stimme, der über Engel sprach, aber sie nicht verstand.

Marie wurde zu Madame Marie, als an jenem Dienstag im Mai das Herz ihrer Mutter nicht mehr wollte und im Jenseits verpuffte, und als Marie verstand, was der Himmel von ihr forderte, wurde sie übermächtig und so eisern wie ihre Mutter, die nicht mehr war. „Ich wollte dich nie“, sagte sie ihr einst einst, und Marie, die damals zwar blass, aber nicht blöd war, haderte mit diesen Worten und fragte nach. Es war verboten. Damals, als im Dorf schmutzige Geheimnisse anstatt des Bürgermeisters regierten und die Moral im Morast versackte, müde und machtvoll, erfuhr Marie die Wahrheit. „Moral wird dir nicht in die Wiege gelegt“, sagte ihre Mutter oft, und Marie verstand nie, worauf sie hinaus wollte. „Ich wollte dich nie“, sagte sie trotzdem, und Marie wollte diesen vier Worten trotzen, konnte es aber nie.

Ihre Mutter hatte es mit einer Stricknadel versucht, aber Marie war schon immer hartnäckig gewesen, auch als Fötus, und sie widerstand der Nadel und dem Wunsch ihrer Mutter. Sie war nie gewollt, und das spürte sie jeden Tag, bis zu jenem, an dem das Herz ihrer Mutter versagte und sie erkannte, woher sie kam. Ein Brief, ein paar Worte, eine zitternde Handschrift, die nach Sehnsucht und Ferne aussah und ein kleines bisschen nach Lavendel duftete. Sie hatte eine Theorie, aber die sagte sie keinem, wozu auch, es spielte doch ohnehin keine Rolle. Aber jetzt wusste sie, wo ihre Wurzeln waren, zumindest vielleicht, aber dieses Vielleicht trug sie weiter, und so wurde Marie zu Madame Marie, mit weizenblonden Haaren und einer Vergangenheit im Süden, wo der Mann zu leben schien, der verschwand, ehe Marie auftauchte, und der Schuld daran hatte, dass ihre Mutter es mit einer Stricknadel versucht hatte.

„Was machst du?“ fragen viele Leute, wenn sie Madame Marie sehen, und wollen wissen, woher die Blässe und die Gier in ihrem blanken Blick kommt, und Madame Marie antwortet dann immer „Engel“, mit einem geheimnisvollen Blick und starren Lippen, und dann lächelt sie. Ein bisschen wahnsinnig, ein bisschen verwirrt.

Hinter vorgehaltener Hand tuscheln die Leute aus dem Dorf oft über Marie. „Die ist nicht von dieser Welt“, flüstert es über den Marktplatz, wenn samstags die Damen in bauschenden Röcken über die feuchten Pflastersteine schlurfen und neben dem neuesten Tratsch die frischen Lendchen von Bauer Malek in ihre Bastkörbe legen. Zu Hause, wenn die Lendchen über dem Feuer braten, servieren sie dann die Gerüchte neben frisch gebackenem Brot in ihren Bauernstuben, und „Sie ist nicht von dieser Welt“ wird zum eintönigen Mantra, das mit der Sonne untergeht, dort oben im Dorf, wo alles ein bisschen kleiner und alles ein bisschen enger ist.

Madame Marie weiß, was die anderen von ihr denken. Sie ist nicht dumm, und sie hört besser als alle anderen. „Ich bin von dieser Welt“, murmelt sie oft, wenn sie sich morgens im modernden Zuber ein wenig warmes Wasser bereitet, „meine Welt wohnt nur woanders“, nuschelt sie dann mit zusammengebissenen Zähnen, weil das Wasser doch ein wenig zu kalt geraten ist, und fügt trocken hinzu: „Sie wohnt zwischen Gott und den Menschen“.

Es war ein paar Monate nach dem Tod ihrer eisernen Mutter, als Madame Marie zwischen den Ähren lag und ein Weinen hörte. Erst verharrte sie regungslos, denn sie mochte keine Tränen, aber als der Wind das Schluchzen immer näher über Madame Marie wehen ließ, stand sie auf und folgte dem Schmerz. Zwischen zwei dunklen Bäumen lag sie, ein kleines Häufchen Elend, das nun mit weit aufgerissenen Augen auf Madame Marie starrte und abwehrend ihre Hände auf den Bauch legte. Madame Marie erkannte das Gesicht, sie hatte das Mädchen an manchen Sonntagen in der Kirchenbank sitzen sehen, doch jetzt schien sie kleiner und schmutziger. Madame Marie zog das Mädchen auf die Beine und nahm sie wortlos mit in ihre Hütte, und als die Tränen langsamer flossen, erfuhr sie eine Geschichte, die ihr bekannt vorkam. „Ich will es nicht“, murmelte das Tränenwesen immer wieder, und eine kalte Hand griff nach Madame Maries Herz.

In jener Nacht war es nicht Madame Maries eiserne Mutter, die nach einer Stricknadel griff, sondern Madame Marie selbst. Die Worte „Ich will es nicht“ bohrten sich in Madame Maries Herz, noch tiefer als die Stricknadel in den Leib des Mädchens, das am nächsten Tag nach Hause ging, als ob nichts passiert wäre, und an diesem Morgen, als die Sonne ein wenig strahlender als üblich aufging, erkannte Madame Marie, wozu sie auf der Welt war und lächelte wieder ein bisschen wahnsinnig.

„Engel“, meint Madame Marie seit jenem Morgen, „sind dort, wo Himmel und Erde sich berühren“, und dann nickt sie mit den wippenden, weizenblonden Haaren und starrt ins Leere. "Irgendjemand muss sie da ja hinschicken“, fügt sie hinzu, und wieder denkt sie an die Worte des alten Pfarrers mit den schlohweißen Haaren, der predigte, was Madame Marie erst jetzt erkannte. „Engel sind Geschöpfe, die zwischen Gott und den Menschen stehen.“ Madame Marie nickt sich selbst zu. Sie weiß, was zu tun ist.

„Wer braucht einen Engel?“ annonciert Madame Marie seitdem im wöchentlichen Dorfanzeiger, und auch wenn sie nicht ausspricht, was sie denkt, steht zwischen den Zeilen das, was sie ausmacht, und nach Moral fragt in diesem Dorf keiner mehr.

Madame Marie lebt mit Engeln. Vielleicht ist sie selbst einer, wer weiß das schon.

Nellas Niemandsland

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