Aufgefordert von
Hannah von
aheadwork.de habe ich für ihre Kategorie "Ich sehe was, was du nicht siehst", in der diverse Autoren zur Sprache kommen, einen Text in typischer Niemandsland-Haltung geschrieben. Zu finden genau
hier.
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Sie hatte gesagt: 30 Tage. An jedem Tag einen. Schreib es auf. Nur ein paar Buchstaben. Und dann verbrenn das Papier. Hältst du 30 Tage durch, ist er verschwunden.
Sie wird wach und hört das Rauschen zwischen den dünnblättrigen Wänden aus Holz. Erschaudert, weil die Heizung mal wieder nicht funktioniert, tappt auf müden Füßen ins Wohnzimmer und macht Feuer. Der Wind pfeift durch die Ritzen der Tür und übertönt die Wellen in der Ferne, die ihre Sehnsucht wecken, aber auch traurig machen. Warte noch, denkt sie, erst Wärme, dann Meer. Sie nimmt die Holzscheite aus dem Korb, schlichtet, stapelt, knüllt Papier. Fühlt Harz an ihren Fingern, riecht Wald, sucht Streichhölzer. Rollt ihre blanken Zehen ein und erschaudert vor Kälte, hält aber inne. Sieht zu, wie die Zeitung lodert und das klamme Holz angreift. Wartet geduldig auf den Moment. Das Knacksen, das Leuchten, die Glut. Und dann: Die Wärme und der Geruch. Später erst der Blick aus dem Fenster. Regen, wieder mal, aber es rauscht unermüdlich, das Meer, hier unten, im englischen Süd-Osten, am Atlantik, wo im Fernsehen alles immer so romantisch ist, aber das wahre Leben ein bisschen zu traurig schmeckt und das Meer vor der Terrassentür wohnt.
Sie hatte gesagt: Schreib seinen Namen auf ein Blatt Papier. Und dann verbrenn es. Mach das 30 Tage hintereinander – und er ist verschwunden.
Die Tür aufmachen und spüren: Sie ist weit weit fort. Sprachfetzen aus der Ferne aufnehmen, wie ein fremdes Echo, das sie streift, und merken: Sie gehört hierher; hier, wo keiner sie kennt und sie beenden kann, was nie begonnen hat. Spüren, wie der Frühling ankommt, ein Schaf lächelnd grüßen und das Ale am Strand trinken, obwohl es schal und bitter schmeckt, hier, in dem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt und sie das fremde Mädchen mit den leeren Augen ist. „I’m fine, thanks“, murmeln, dazwischen schüchtern in die kleine Vitrine des Strandcafés stieren und „Anything with chocolate?“ murmeln, um wenig später in der cornischen Einsamkeit eines winterlichen Strandes in einen Chocolatecake zu beißen, der süß schmeckt, aber traurig macht. „I’m fine, thanks“, und sie denkt an ihn.
Sie hatte gesagt: Es klingt banal. Aber unterschätze nicht, was es mit dir macht. Schreib seinen Namen auf – und verbrenn ihn.
Als sie das erste Mal seinen Namen auf Papier schreiben will, scheint die Sonne. Sie watet in Gummistiefeln durch die knöchelhohe Brandung und wartet. Sieht die Wellen kommen und gehen, spürt die eisige Kälte das Atlantiks im Februar durch die gummierten Schuhe in ihre Knochen kriechen und wartet. Verschwinden, was heißt das? Was verschwindet? Die Gefühle? Oder der ganze Mensch? Links oben kreischt eine Möwe. Sie zuckt zusammen und der dritte Buchstabe zittert auf dem Papier. Es sind nur fünf, aber es tut weh, jeder einzelne Punkt, aus dem ein Buchstabe wird, jeder Bruchteil der Sekunde, den sie braucht, um seinen Namen auf ein Stück Papier zu schreiben. Sie sieht auf den schwammigen Boden vor sich, die glitschigen Steine, auf denen sie vorsichtig balanciert, und zählt die kleinen Muscheln, die daran kleben und nur darauf warten, dass die Flut kommt und ihnen wieder Leben schenkt.
Sie hatte gesagt: Es ist schwer. Schwerer, als man vermutet. Kaum jemand schafft es. 30 Tage sind lang, und es tut weh. Aber wenn du es schaffst, dann ist er verschwunden.
Der erste Zettel verbrennt ihr die Finger und kühlt zugleich. Das Streichholz will im Wind nicht angehen, ein Versuch, zwei, drei, dann beginnt das Papier zu glimmen. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Klippen und eine leichte Brise kommt auf; so eine, die einen nicht frieren, aber erschaudern lässt, wo man spürt: Es ist schon wieder ein bisschen zu spät für alles. Der Zettel in ihrer Hand bleibt kalt, bis die Wanderer links oben hinter der Bucht verschwunden sind, und dann treibt der Sturm das Feuer an. Der erste Buchstabe verglüht, der zweite verschwindet hinter der roten Glut, der dritte, der vierte, … Als der letzte Buchstabe verbrennt und das Papier ihr die Finger versengt, lässt sie den Rest fallen. Die Flut kommt, und zwischen den Wellen verschwindet ein Papierschnipsel in der Gischt des Abendrots, und sie weint um ein paar blanke Buchstaben, ausgelöscht, irgendwo im Atlantik.
Sie hatte gesagt: Hältst du 30 Tage durch, ist das Ende dein Anfang. Er ist verschwunden, aber du bist da.
Sie hält die Füße wieder in den kalten Atlantik, dessen wütende Gischt bis zu ihren Knien spritzt und sie erschaudern lässt, und sie weiß, sie muss es aufschreiben, denn es ist leer in ihr geworden. Jeder Buchstabe dringt tief, und sie erinnert sich daran, dass sie immer dachte, eines Tages wird sie nicht mehr da sein, und wenn er es merkt, dann ist es zu spät; dann, wenn er denkt: Zuviel Gefühl hab ich verschwendet. Dann, wenn er an ihren langen Wimpern klebt und ein bisschen traurig darüber ist, dass seine Sehnsucht sich nicht erfüllen wird und in ihren Pupillen eine Geschichte darüber liest, dass jeder Schmerz uns allein trifft, weil es nun mal sein Zweck ist, und wenig später, wenn die Sonne tiefer steht, stellt sie sich vor, dass sie sein Lächeln ins Meer wirft und dabei spürt, dass nicht mal im Zwischenraum der Wellen Platz für so viel Gefühl ist, und dann, dann verklingt in ihr der letzte Ton.
Sie hatte gesagt: Er wird verschwinden, glaube mir. Vertrau auf deine Gefühle.
Wochen später, als das Meer weit weg ist und das Dunkle seiner Augen nah, vermisst sie die beißende Gischt des Atlantiks und kann sich kaum mehr erinnern, wie es sich anfühlte, in der Einsamkeit eines cornischen Dorfes ihre Traurigkeit zu tragen, denn er sieht sie an, mit Augen voller Weite, und sie weiß plötzlich wieder, warum jeder verbrannte Buchstabe ihr den Atem raubte.
„Hast du viel geschrieben?“ fragt er, „Dort oben an Meer?“
„Ja“, antwortet sie.
„Was denn? Liebesgeschichte, Sachbuch, Entwicklungsroman?“
„Von allem ein bisschen“, weicht sie aus.
„Darf ich was lesen?“ fragt er und hebt die Wimpern fragend, während sie seinen Blick zur Seite schiebt.
„Nein, lieber nicht“, sagt sie.
„Warum?“ fragt er.
„Ach“, sagt sie lapidar, „du weißt schon …“, zuckt die Achseln und denkt an das zusammen gefaltete Stück Papier in ihrer Hosentasche, das sie heute Abend anzünden wird. Zum dreißigsten Mal.
„Dann vielleicht morgen?“, fragt er lächelnd, und im Bruchteil einer Sekunde, als die Sonne untergeht, trifft ein letzter Sonnenstrahl seine in die Abenddämmerung gehobenen Augen und lässt seine Pupillen feurig aufleuchten, wie die verglühenden Buchstaben auf Papier, vor Tagen im Atlantik verschwunden.
„Ja“, sagt sie, „vielleicht morgen.“