Freitag, 11. März 2011

Nicht wieder

Nämlich dann, wenn es nicht weh tut. Am Rande deiner Pupillen falle ich in meinen Abgrund und lande weich. Davor: eine Leichtigkeit im Geruch deines Nackens und ein Lachen, das gackernd nach oben streicht. Danach: vollatmige Stille und nach oben hin Fülle, die uns offen steht. Eines Tages komme ich nicht wieder. Dann bleiben dir nur meine Spuren und du wirst mich suchen, irgendwo im Blick aus dem Fenster und mein Gesicht sehen vielleicht, das irgendwo zwischen deinen Zweigen verbleicht.
Ich greife in die Stille. Und zwischen meinen Fingern: immer noch der Rest von dir.

Die Dämmerung streift die Wand und sucht meinen Schatten, der in deinen Sonnenflecken geborgen ist. Das Lachen vor meiner Tür, die Hand an der polierten Klinke, dann: Stimmengewirr und mein Schweigen, das zerbricht. Eines Tages komme ich nicht wieder. Später: die Traurigkeit dahinter und Schweigen auf jeder Diele, die mich zu dir tragen könnte und keine Spur von Licht. Draußen auf dem Hof sind mir die Räume zu groß und innendrin: Du gehst auf der Flucht vor mir verloren vielleicht. Du klammert dich an, doch dann gibst du auf: bis es von dir weicht.
Ich starre in die Dunkelheit. Und auf der Rückseite meiner Lider: immer noch dein Gesicht.

Ich rinne durch die Zeit und fließe durch Entscheidungen, die keine Weichen stellen. Hinterlasse Spuren auf dir und erahne die Richtung meiner Fußstapfen, die übrig bleiben. Eines Tages komme ich nicht wieder. Und dann: Innigkeit zwischen den Stunden und du, der da wartet auf mich. Zu müde für den einen Schritt, der mich trägt, aber doch: die Schuhe in der Hand und spüren: jetzt. Eines Tages gehe ich vielleicht und da drüben, im Zimmer mit den wehenden Vorhängen, da wird es still in dir, als es dich erreicht.
Ich ruhe in der Nacht. Und über alledem du: der Punkt, auf den ich zulaufe.

Montag, 10. Januar 2011

Die Herzzeitlose

Es ist feige, das ist unumstritten, aber es ist einfacher, ihn nicht anzurufen. Seine Stimme lockt unweigerlich meine Tränen, ein einfaches Hallo genügt, um Dämme zu brechen, Dämme ohne Wall und mich dazu. Uferlos.

Er klingt wie immer, wenn wir uns doch sprechen. Er klingt wie ein Alltag, den ich um mich haben will, bedingungslos, wie ein grobmaschig gestrickter Wollpulli, der wärmt und kratzt zugleich, den man trotz Rauheit trägt, weil es kalt geworden ist da draußen und von Anruf zu Anruf da drinnen.

Müde, er wirkt ein bisschen müde in der Stimme, erschöpft in seiner Fröhlichkeit, aber er schweift ab, führt uns auf sichere Wege, wo die Traurigkeit sich zwischen Scherzen verstecken kann, und dann verabschieden wir uns und atmen tief ein, jeder für sich.

Die kalten Finger um meine Brust bleiben und streicheln mich durch den Tag, und doch kann ich aufhören, daran zu denken, an ihn zu denken, und dann fühlt sich leben so einfach an, als ob es nichts da draußen gäbe, das lauert.

Wettergegerbt rutsche ich durch meinen Alltag und verdränge, denke an Nichtigkeiten und scheue den nächsten Anruf, betrachte mein Telefon aus den müden Augenwinkeln, sehnsüchtig nach seiner Stimme und doch froh, wenn er nicht anruft. Er fehlt mir mehr als jemals zuvor.

Das Leben stolpert weiter, ich atme mich durch die Stunden und bin zu leise. Er ist auf Facebook. Er meldet sich auf Skype an. Sein Name blinkt rot und grün und ich verharre, überlege, würde gerne, schweige. Es scheint ihm gut zu gehen, wenn er alltäglichen Banalitäten nachgehen kann, ohne mich, ohne mein Bohren, wenn er vor dem Rechner sitzt, als ob nichts wäre, und dann vielleicht doch an mich denkt, schief lächelt in seinen Mundwinkeln, und dann ist er schon wieder offline und der Name blass, alles ist endlich, das weiß man ja.

Die Erinnerung streift mich unvermutet, lässt mich lächeln, hadern, schaudern. Tage, an denen ich über seine Hand streichen durfte und er es zuließ, ohne peinlich berührt zu sein. Trockene Worte, deren Wärme nur durch die darin enthaltene, verspielte Beleidigung übertüncht wurde, keck ausgesprochen mit einem Tupfen Liebe obendrauf, und dann unser Lachen, das glucksend von irgendwo da drinnen kam, wo unsere Herzen sind und wo man nur dann lachen kann, wenn man sich nah ist und ein Herz hat.

In mir ist es kalt geworden, seit sein Herz anders schlägt.

Er ist mein Vater. Und sein Herz wird in den nächsten Tagen operiert.

Mittwoch, 28. April 2010

Papier

Aufgefordert von Hannah von aheadwork.de habe ich für ihre Kategorie "Ich sehe was, was du nicht siehst", in der diverse Autoren zur Sprache kommen, einen Text in typischer Niemandsland-Haltung geschrieben. Zu finden genau hier.

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Sie hatte gesagt: 30 Tage. An jedem Tag einen. Schreib es auf. Nur ein paar Buchstaben. Und dann verbrenn das Papier. Hältst du 30 Tage durch, ist er verschwunden.

Sie wird wach und hört das Rauschen zwischen den dünnblättrigen Wänden aus Holz. Erschaudert, weil die Heizung mal wieder nicht funktioniert, tappt auf müden Füßen ins Wohnzimmer und macht Feuer. Der Wind pfeift durch die Ritzen der Tür und übertönt die Wellen in der Ferne, die ihre Sehnsucht wecken, aber auch traurig machen. Warte noch, denkt sie, erst Wärme, dann Meer. Sie nimmt die Holzscheite aus dem Korb, schlichtet, stapelt, knüllt Papier. Fühlt Harz an ihren Fingern, riecht Wald, sucht Streichhölzer. Rollt ihre blanken Zehen ein und erschaudert vor Kälte, hält aber inne. Sieht zu, wie die Zeitung lodert und das klamme Holz angreift. Wartet geduldig auf den Moment. Das Knacksen, das Leuchten, die Glut. Und dann: Die Wärme und der Geruch. Später erst der Blick aus dem Fenster. Regen, wieder mal, aber es rauscht unermüdlich, das Meer, hier unten, im englischen Süd-Osten, am Atlantik, wo im Fernsehen alles immer so romantisch ist, aber das wahre Leben ein bisschen zu traurig schmeckt und das Meer vor der Terrassentür wohnt.

Sie hatte gesagt: Schreib seinen Namen auf ein Blatt Papier. Und dann verbrenn es. Mach das 30 Tage hintereinander – und er ist verschwunden.

Die Tür aufmachen und spüren: Sie ist weit weit fort. Sprachfetzen aus der Ferne aufnehmen, wie ein fremdes Echo, das sie streift, und merken: Sie gehört hierher; hier, wo keiner sie kennt und sie beenden kann, was nie begonnen hat. Spüren, wie der Frühling ankommt, ein Schaf lächelnd grüßen und das Ale am Strand trinken, obwohl es schal und bitter schmeckt, hier, in dem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt und sie das fremde Mädchen mit den leeren Augen ist. „I’m fine, thanks“, murmeln, dazwischen schüchtern in die kleine Vitrine des Strandcafés stieren und „Anything with chocolate?“ murmeln, um wenig später in der cornischen Einsamkeit eines winterlichen Strandes in einen Chocolatecake zu beißen, der süß schmeckt, aber traurig macht. „I’m fine, thanks“, und sie denkt an ihn.

Sie hatte gesagt: Es klingt banal. Aber unterschätze nicht, was es mit dir macht. Schreib seinen Namen auf – und verbrenn ihn.

Als sie das erste Mal seinen Namen auf Papier schreiben will, scheint die Sonne. Sie watet in Gummistiefeln durch die knöchelhohe Brandung und wartet. Sieht die Wellen kommen und gehen, spürt die eisige Kälte das Atlantiks im Februar durch die gummierten Schuhe in ihre Knochen kriechen und wartet. Verschwinden, was heißt das? Was verschwindet? Die Gefühle? Oder der ganze Mensch? Links oben kreischt eine Möwe. Sie zuckt zusammen und der dritte Buchstabe zittert auf dem Papier. Es sind nur fünf, aber es tut weh, jeder einzelne Punkt, aus dem ein Buchstabe wird, jeder Bruchteil der Sekunde, den sie braucht, um seinen Namen auf ein Stück Papier zu schreiben. Sie sieht auf den schwammigen Boden vor sich, die glitschigen Steine, auf denen sie vorsichtig balanciert, und zählt die kleinen Muscheln, die daran kleben und nur darauf warten, dass die Flut kommt und ihnen wieder Leben schenkt.

Sie hatte gesagt: Es ist schwer. Schwerer, als man vermutet. Kaum jemand schafft es. 30 Tage sind lang, und es tut weh. Aber wenn du es schaffst, dann ist er verschwunden.

Der erste Zettel verbrennt ihr die Finger und kühlt zugleich. Das Streichholz will im Wind nicht angehen, ein Versuch, zwei, drei, dann beginnt das Papier zu glimmen. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Klippen und eine leichte Brise kommt auf; so eine, die einen nicht frieren, aber erschaudern lässt, wo man spürt: Es ist schon wieder ein bisschen zu spät für alles. Der Zettel in ihrer Hand bleibt kalt, bis die Wanderer links oben hinter der Bucht verschwunden sind, und dann treibt der Sturm das Feuer an. Der erste Buchstabe verglüht, der zweite verschwindet hinter der roten Glut, der dritte, der vierte, … Als der letzte Buchstabe verbrennt und das Papier ihr die Finger versengt, lässt sie den Rest fallen. Die Flut kommt, und zwischen den Wellen verschwindet ein Papierschnipsel in der Gischt des Abendrots, und sie weint um ein paar blanke Buchstaben, ausgelöscht, irgendwo im Atlantik.

Sie hatte gesagt: Hältst du 30 Tage durch, ist das Ende dein Anfang. Er ist verschwunden, aber du bist da.


Sie hält die Füße wieder in den kalten Atlantik, dessen wütende Gischt bis zu ihren Knien spritzt und sie erschaudern lässt, und sie weiß, sie muss es aufschreiben, denn es ist leer in ihr geworden. Jeder Buchstabe dringt tief, und sie erinnert sich daran, dass sie immer dachte, eines Tages wird sie nicht mehr da sein, und wenn er es merkt, dann ist es zu spät; dann, wenn er denkt: Zuviel Gefühl hab ich verschwendet. Dann, wenn er an ihren langen Wimpern klebt und ein bisschen traurig darüber ist, dass seine Sehnsucht sich nicht erfüllen wird und in ihren Pupillen eine Geschichte darüber liest, dass jeder Schmerz uns allein trifft, weil es nun mal sein Zweck ist, und wenig später, wenn die Sonne tiefer steht, stellt sie sich vor, dass sie sein Lächeln ins Meer wirft und dabei spürt, dass nicht mal im Zwischenraum der Wellen Platz für so viel Gefühl ist, und dann, dann verklingt in ihr der letzte Ton.

Sie hatte gesagt: Er wird verschwinden, glaube mir. Vertrau auf deine Gefühle.

Wochen später, als das Meer weit weg ist und das Dunkle seiner Augen nah, vermisst sie die beißende Gischt des Atlantiks und kann sich kaum mehr erinnern, wie es sich anfühlte, in der Einsamkeit eines cornischen Dorfes ihre Traurigkeit zu tragen, denn er sieht sie an, mit Augen voller Weite, und sie weiß plötzlich wieder, warum jeder verbrannte Buchstabe ihr den Atem raubte.

„Hast du viel geschrieben?“ fragt er, „Dort oben an Meer?“

„Ja“, antwortet sie.

„Was denn? Liebesgeschichte, Sachbuch, Entwicklungsroman?“

„Von allem ein bisschen“, weicht sie aus.

„Darf ich was lesen?“ fragt er und hebt die Wimpern fragend, während sie seinen Blick zur Seite schiebt.

„Nein, lieber nicht“, sagt sie.

„Warum?“ fragt er.

„Ach“, sagt sie lapidar, „du weißt schon …“, zuckt die Achseln und denkt an das zusammen gefaltete Stück Papier in ihrer Hosentasche, das sie heute Abend anzünden wird. Zum dreißigsten Mal.

„Dann vielleicht morgen?“, fragt er lächelnd, und im Bruchteil einer Sekunde, als die Sonne untergeht, trifft ein letzter Sonnenstrahl seine in die Abenddämmerung gehobenen Augen und lässt seine Pupillen feurig aufleuchten, wie die verglühenden Buchstaben auf Papier, vor Tagen im Atlantik verschwunden.

„Ja“, sagt sie, „vielleicht morgen.“

Mittwoch, 15. April 2009

Letzte Tage, jetzt

Letzte Tage, jetzt. Im Hinterhaus links brennt ein dünnes Licht. Morgenstundenverrauchtes Pochen klopft an meine Stirn und will hinaus ins Halbdämmerlicht des unvollständigen Tages. Ich fühle mich wie er. Mich fröstelt vor mir selbst. Ich harre schmerzensmüde der Dämmerung und zähle die Stunden rückwärts gegen die Zeit. Ein farbloser Start in einen matten Morgen, der sich müde zum Tag zelebriert, aber selbst nicht feiern will.

Letzte Tage, jetzt. Im Abendrot eines Jungmädchensommers labe ich mich am Dämmerlicht hinter uns, das die Großstadt traurige Augen machen lässt. Wischen den Frühling flüchtig beiseite, ehe er uns brisenzart fortwehen kann. Wir stolpern über sinnliche Sommerboten und landen trotzdem weich. Staunen über uns selbst. Den Mondschein vollmundig verlacht, nur die sanfte Schwermut unserer Sehnsucht reibt sich an kratziger Rollkragenwolle.

Letzte Tage, jetzt. Das Glas ist voll, aber die Meter sind leer, und jenseits der Nacht wartet meine Erinnerung. Ich friere, weil draußen Sommer wird, aber drinnen kein bisschen Wärme, und ich frage mich insgeheim, was man alles übersehen kann, wenn hinter den Augen zu viele Wasser stehen.

Letzte Tage, jetzt. Im Hinterhaus links brennt kein Licht mehr. Vielleicht werde ich einen Wimpernschlag lang innehalten und den Abschied mit den Schultern wegzucken, aber ich werde mich nicht umdrehen. Wenn die Tür dann hinter mir ins Schloss fällt, flicke ich mich wieder zusammen und sehe langsam dabei zu, wie eine Sommersprosse sachte zu Boden fällt. Sie ist für dich.

Samstag, 4. April 2009

Sollbruchstelle

Ich trinke aus dem Mond und heule das Glas an. Stunden später pflücke ich eine Wimper von deiner Wange und sage: Wünsch dir was. Meine blasse Silhouette in deinen Pupillen verdunkelt sich, und du lächelst nicht, als du die Augen schließt und einen Gedanken fixierst, den ich verliere, ehe ich ihn greifen kann.

Meine Vergangenheit lebt in einem anderen Land. Ich bin zu müde für einen Sommer, der noch nicht mal begonnen hat, und stehe im Märzgewitter mit blanken Zehen auf modrigen Blättern und lasse mir Hagel auf die Brüste prasseln, bis es weh tut.

Die Traurigkeit kommt täglich mit einer Eleganz, die den Frühling in mir nonchalant zur Seite wischt. Viel zu vornehm nimmt sie neben mir Platz und fordert Raum ein, den ich ihr nicht geben will, und wieder geht ein Tag vorbei, der viel zu blass war, um sich an ihn zu erinnern, wieder ein Tag, an dem jeder Augenblick an der eigenen Sollbruchstelle scheitert.

Du weißt nicht, was du tun sollst, wenn ich nicht mehr da bin, sagst du mit schwarzklebrigen Augen, und ich möchte alle Möglichkeiten aus dir herauslieben, werde aber trotzdem verschwinden. Es ist zu viel zum Gehen, aber zu wenig zum Bleiben, und ich klebe mir ein Lächeln ins Gesicht, damit ich selbst nicht sehe, wie mir das Herz unter den Lippen zerbröselt.

Mein Herz hat keine Sollbruchstelle.

Dienstag, 14. Oktober 2008

Herbsttag, beschissen

laub Die Traurigkeit kommt immer dann, wenn man sie nicht eingeladen hat. Hockt sich dreist in den eigenen Lieblingssessel, schlägt nonchalant die Beine übereinander und schmiert einem die Kälte ins Gesicht.

Es hockt ein Nebel über dem Land, der durch die Ritzen meiner müden Fenster zieht und dem Baum davor die Farben nimmt. Ein Schritt auf den Balkon, eine kühle Brise, ein Wispern aus einer fremden Wohnung, ein Gedanke zu viel – alles milchig getrübt in zäher Geschwindigkeit. Kalte Füße, dazwischen das Gurren der Tauben am Fenstersims gegenüber, die träger als sonst ihr Gefieder plustern und hohläugig zu mir stieren, die barfuß, mit eingerollten Zehen auf dem Balkon steht und viel zu lange auf die gefrorene Taubenscheiße vor sich starrt.

Der Stein auf meinem Herzen, er will einfach nicht fallen.

Mit nackten Wimpern die Nase in die Witterung recken und das fallende Laub erschnuppern. Letzte Sonnenstrahlen mit der Zunge auffangen und dabei zusehen, wie eine Sommersprosse zu Boden fällt. Der Traurigkeit entgegenbrüllen: „Friss Scheiße“ und dabei lächeln.

Ich falle nicht tief. Ich springe nur vom höchsten Ton.

Sonntag, 24. August 2008

Schnee, uferlos

schnee1Wir küssen uns das erste Mal im Schnee. Vielleicht in einem lichten Augenblick irgendwann im Altweiber-Dezember, wo der Himmel klar ist und es ein bisschen zu sehr nach Weihnachten riecht. Ein Hauch Zuckerwatte, zu süß und zu bitter zugleich, ein bisschen Mandel und Marzipan, dazu verglühter Wein, getunkt in Nelken und Zimt und Rosinen, die keiner mag. Vielleicht gehen wir mit roten Wangen durch die bleiernen Straßen, der Asphalt mit einer Frostschicht überzogen, und hören unsere eigene Schritte nur dumpf hinter uns, die im süßen Geruch verpuffen. Vielleicht dämmert es ein klein wenig an diesem bitteren Abend, vielleicht kommt ein leichter Sturm auf, der unsere Gesicher beißt und Tränen in die Augen treibt. Es ist ein zögerndes Verharren vor dem Schnee, ein langsames Schreiten in den Sturm, und dann starren wir beide nach oben, um die erste Schneeflocke mit der Zunge aufzufangen. In deinen Augen ist ein Lachen, du frierst und steckst deine Hände tief in deine Manteltaschen, aber trotzig hältst du dem Wetter stand und starrst mit weit aufgerissenen Augen nach oben. Du blinzelst, als an deinem linken Wimpernkranz eine Schneeflocke hängenbleibt und lachst wie ein kleiner Junge, ein bisschen zu schnell, ein bisschen zu laut.

"Komm", sagst du und nimmst meine Hand. Das erste Mal, und mich wundert die Zartheit deiner Haut und die Vergerbtheit in den Zwischenräumen unserer suchenden Finger. Du ziehst mich aus den tanzenden Schneeflocken in einen düsteren Hauseingang und hältst inne. Dein Blick ist ebenso dunkel die die Wand hinter dir.
"Lass uns warten", sagst du, zuckst die Schultern und ziehst die dicke Wolle deines Mantels fester an dich. Es wird dunkel, kein Stern in Sicht, die Schneeflocken wirbeln um uns und verdichten den Blick auf die Straßen vor uns, in denen das Leben weiter geht.

Wir stehen da wie eingefroren, obwohl es gar nicht so kalt ist, aber die dunkle Ecke der Hausmauern ist zu eng und wir zu nah, ein kleines bisschen gezwängt, ein kleines bisschen gewollt. Ein paar Zentimeter zu deiner Hand, die mich losgelassen hat, ein paar Zentimeter im Zwischenraum dessen, was gewollt, aber nicht erlaubt ist. Dein Blick verharrt an meinem Kragen und wandert langsam nach oben, bleibt hängen an meinen Wimpern und wird schal, nur ein wenig, aber lang genug, um es zu merken. Es sind diese Sekunden, die man niemals festhalten kann und auch nicht sollte, aber die bleiben und verführen und erst recht verdammt sind.

Plötzlich geht die Tür auf, eine Frau drängt sich raus und dich zur Seite. Du stolperst, zögerst, haderst - und schwankst zu mir, ganz nah, zu nah, so nah, dass sie vorbei kann, doch als sie weg ist, bleibst du stehen. Dein Arm auf meiner Schulter, dein Geruch in meiner Nase, dein Lächeln in meinem Gesicht, und als du sachte blinzelst, spüre ich einen Hauch an meiner Stirn, als ob deine Wimpern mich keck kitzeln würden. Das Schweigen zwischen uns wird laut, die Schneeflocken wirbeln noch immer im Wasserglas neben uns, und dann trifft ein Schneekristall meine Lippe und friert ganz leise vor sich hin, bis du ihn wegküsst.

Als deine Lippen sich lösen und zu einem Lächeln verziehen, sage ich: "Davon habe ich geträumt", und halte den Kopf ein klein wenig schief. "Nur hat es damals geregnet".
Du nickst, als wüsstest du, wovon ich rede und streichst mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht, während du mit der anderen Hand die meine loslässt.
"Es roch nach Altweibersommer, nach gemähtem und modrigem Gras, es roch nach September, als du mich im Traum geküsst hast", erkläre ich und merke, dass du es nicht verstehen kannst. Nicht den Kuss, von dem ich träumte, nicht den Kuss, den wir uns gerade gaben.

"Was ist nach dem Kuss passiert?" willst du wissen.
"Ich habe mir den Regen von den Lippen geleckt", sage ich. "Und du bist gegangen".
"Und jetzt?" fragst du.
"Lecke ich mir den Schnee von den Lippen", sage ich.
"Wer geht?" fragst du.
"Nichts geht", sage ich und spüre die Traurigkeit gar nicht, die mich einhüllt. Es ist zu kalt für Sentimentalitäten und zu einsam zu zweit.

"Du wirst ganz langsam fort gehen, und ich werde dir nachsehen", murmle ich und verstecke meine müden Augen in meinem Mantelkragen. "Das machen die in französischen Filmen so."
Du nickst.
"Und dann werde ich in irgendeine Bar gehen und mir etwas Hochprozentiges bestellen", sage ich. "Das machen die in amerikanischen Filmen so".
Du nickst.
"Und dann werde teures Geschirr gegen die Wand schleudern", sage ich. "Das machen die in italienischen Filmen so".
Du nickst.

"Und dann werde ich nach Hause gehen und ..." Ich halte inne, mir fehlt der Atem.
"Was?" fragst du.
Jetzt nicke ich.
"Ich werde aus Papier einen Schwan falten und dann verbrennen", antworte ich.
"In welchen Filmen machen die es so?" fragst du.
"In meinem", sage ich.

Du sagst nichts mehr und starrst in Zeitlupe auf den fallenden Schnee, als ob er damit schneller oder langsamer fallen würde. Die Erde dreht sich genauso schnell, der Schnee fällt genauso langsam wie immer, auch wenn die Liebe einfriert und trotz Wärme nicht sein darf, vor allem nicht in einem Altweiber-Dezember, in dem es zu sehr nach Weihnachten riecht. Ich schnuppere nach der Zuckerwatte, verharre in der eisigen Kälte und atme ein und aus und betrachte die dampfenden Wolken, die aus meinem Mund treten, den du vielleicht gerade geküsst hast. Meine Lippen sind rau, als ich nicke und dir zusehe, wie du langsam fortgehst. Deine Schritte sind langsam, ein bisschen unbeholfen, und du drehst dich ebenso wenig um, wie ich dir nachlaufe. Und als du nur mehr ein kleiner Punkt im Schneegestöber bist, wische ich mir die Eiskristalle aus den Augen und atme tief ein.
So könnte es sein.


(Hier geht's zu Teil 1).

Sonntag, 3. August 2008

Was fehlt

fehler„Wann bist du so geworden?“, will er wissen.
Wenn etwas fehlt, das nie da war, fehlt mehr, als fehlt, wenn einem nichts fehlt. Das füreinander Fehlen, das miteinander, gegeneinander, zueinander, voneinander Fehlen. Es fehlt.

Es ist ein Leichtes, Buchstaben zu biegen, solange die Hebelwirkung fehlt und ihre Kraft dort ist, wo er fehlt. Der Flaschenzug ist längst nicht mehr im Lot. Die Flasche ist voll, aber der Zug fehlt, der sie weit weg bringt; dorthin, forthin, fehlthin. Dort, wo nichts fehlt, nur seine verfehlte Melodie. Ein bisschen Rockmusik macht keinen Sommer, wenn es ihm an Takt fehlt und der Rhythmus in schrägen Harmonien schwankt. Und während er Disharmonien korrigiert, fehlt ihr der Atem, ein weiteres Mal für ihn Luft zu holen. Ihr fehlt die Kondition, um so weitermachen zu können, um atmen zu können, ohne dass ihr der Sauerstoff fehlt und er, der sie atmen lässt.

Fehlen, das tut der Anstand, seinen Fuß aus ihrer Tür zu nehmen, damit sie die Tür schließen kann vor dem, was ihr fehlt. Fehlen, das tut ihr Verstand, während ihr Herz überläuft und sich verfehlt und verirrt und der Ausweg fehlt, der Fehler wieder gut machen könnte. Es sind die Mitternachtsspitzen, die fehlen. Die Augenblicke in der Dunkelheit, wenn seine Augen erzählen, sein Mund lügt und alles fehlt außer der Nähe, die nicht sein darf und für immer fehlen muss, soll, wird.

Seit er nicht da ist, fehlen der Stadt die Lichter, und sie sucht ihn zwischen blechernen Buchstabenhülsen, denen die Hoffnung fehlt.

„Wann bist du so geworden?“, will er wissen.

„Seitdem du mir fehlst“, antwortet sie.

Ihm fehlen die Worte.
Und ihr fehlt die Liebe.
Weil sie ihm fehlt.

Nellas Niemandsland

Neurosen, Nettigkeiten & notwendiger Nonsens

Status im Niemandsland

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Neue Niemandslandworte

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PJebsen - 26. Jul, 12:22
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Nella Niemandsland - 11. Mär, 22:50
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testsiegerin - 10. Jan, 10:55
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katiza - 10. Jan, 07:25
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Es ist feige, das ist unumstritten, aber es ist einfacher,...
Nella Niemandsland - 10. Jan, 00:58
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HARFIM - 29. Mai, 18:34
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la-mamma - 3. Mai, 08:49
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DrYes - 17. Apr, 01:01

Die Vergangenheit im Niemandsland

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Zuletzt aktualisiert: 26. Jul, 12:22

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