Regen, uferlos
Wir küssen uns das erste Mal im Regen. Vielleicht in dem Augenblick der Dämmerung, wenn der Himmel von einem blassen Schimmer durchzogen ist und die zart fallenden Tropfen eines lauen Sommerregens sekundenschnell zu dichtem Wassergeprassel werden, das den Moment und uns im Nu wegschwemmen könnte. Vielleicht sind wir irgendwo barfuss am Rande der Stadt, wo der Asphalt noch von der Sonne erhitzt ist und ein milchiger Dunst über dem Abend liegt. Der Himmel wird langsam grau, ohne Mond, ohne Sterne, beinahe makellos düster und verschwommen, wie ein unfertig gemaltes Aquarell aus schwarzer Farbe und zu viel Wasser, das bleiern verläuft, und als wir uns mit Regentropfen an den Wimpern gegenüberstehen und zu lächeln versuchen, weil der Regen uns erwischt hat, ist der Augenblick da. Ein Sturm im Wasserglas, der alles wegschwemmt, was sein könnte, auch den Kuss, der gerade unser Universum überflutet. Deine Wimpern flattern im Rhythmus des Regens, und es ist still, sogar die Tropfen fallen leiser, als ob sie ahnen würden, dass wir untergehen. Danach siehst du mich mit leicht geneigtem Kopf an, deine Augenbrauen wie immer zu buschig über deinem dunklen Blick, und der Glanz in deinen Augen, er wird mich später verfolgen, das zaghafte Innehalten, das Zögern der Pupillen, ja nicht loszulassen, die sprachlose Innigkeit unserer Blicke, in denen die Sehnsucht geballt ist, und dann wirst du lächeln, ein bisschen tapfer, ein bisschen schief. Du legst in Zeitlupe deine Hand an meine Wange, kalt und nass, aber du wärmst, und in deinen Fingerspitzen spüre ich dein Herz pochen. In deinen Augen blitzt ein kurzes Erkennen auf, ein großes Erstaunen, fast so, als ob du nicht an die Vollkommenheit dieses Kusses geglaubt hast. Ein Streichen über meine Haut, das kaum zu spüren ist und vom Regen weggewaschen wird, ehe es sich einbrennen kann, du streichst mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und weißt, dass es das letzte Mal sein wird, das erste Mal, und dann lächelst du nicht mehr. Irgendwo hinter uns raschelt der Regen zwischen den Zweigen, ich lege meinen Kopf an deine feuchte Schulter und kann dich nicht riechen, nur der Geruch von frisch gemähtem Gras schwebt um uns, ein bisschen modrig, ein bisschen September, und als deine Hand meine Wange loslässt und du dich umdrehst, da weine ich nicht, sondern bleibe einfach nur im Regen stehen, schließe die Augen und zähle die Tropfen, bis ich an nichts anderes mehr denke als den Regen, und wenn ich die Augen wieder öffne, dann bist du fort und hast den Kuss mitgenommen, damit ihn der Regen nicht wegschwemmt. Es tut nicht weh. Es ist nur ein warmer Sommerregen, der auf mein Herz fällt, und ich spüre jeden einzelnen Tropfen, nicht wie einen Peitschenhieb, eher wie ein sanftes Ziehen, mit dem man leben kann, weil der Schmerz nicht gnadenlos zuschlägt. Der Regen tropft und das Herz klopft, und alles geht weiter, irgendwie. So könnte es sein.
Nella Niemandsland - 5. Mär, 20:07
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