Mittwoch, 8. August 2007

Klassenfahrt auf Speed

Der erste Abend bei J. fühlt sich an wie eine Klassenfahrt auf Speed in den Osten, obwohl man sich im Westen trifft. Alles in Zeitlupe und trotzdem auf Überholspur, alles in Spektralfarben und doch ohne Licht. Es sind fremde Gesichter, die sich mustern, fremde Geschichten, die sich gleichen, fremde Gemeinsamkeiten, die sich vereinen. Niemand spielt Flaschen drehen, aber die Luft ist kindisch und die zwei Quadratmeter Balkon sind ein Wirrwarr aus verknoteten Beinen, die sich unter einer haarigen Decke berühren und zurückziehen. Die raue Mauer drückt in den Rücken, jemand fragt nach einem Kissen, aber aufstehen ist zu mühsam, man verharrt beinahe bewegungslos in der rauchigen Nacht. In der Mitte eine kleine Kerze, die dicke Zigarette geht reihum, und die Reste aus dem Kühlschrank werden geteilt, ein bisschen Wodka, ein bisschen Weinbrand, das Bier ist längst alle. Die Pupillen sind müde, die Lider flattern, das Lächeln wird breiter, denn man redet über Sex, alle durcheinander, alle schlüpfrig, und im Nebenzimmer schläft die 6-Jährige, die morgen eingeschult wird, neben dem Säugling mit den offenen Augen. Ein Hauch Kindlichkeit liegt in der Luft, man fühlt sich jung und leicht, obwohl jeder eine andere Traurigkeit versteckt, der eine ist unglücklich verliebt, die andere komplexbehaftet, die nächste magersüchtig, die dritte vielleicht schwanger. Die Wangen färben sich rosa, obwohl es dunkel ist, und Asche ist überall, auf der Decke, unter der Decke, an den Klamotten, in den Augen. Kichern perlt über die promilleleichten Stimmbänder, als man ängstlich gackernd brüllt „Daddy kommt!“, und beinahe hat man vergessen, dass man erwachsen ist, dass Daddy ruhig kommen kann, aber es fühlt sich nach Altweibersommer und Ferienlager an, nach Erwischt werden und Strafe bekommen, auch wenn Daddy grinst und sich einen Wodka einschenkt. Daddy heißt Daddy, obwohl er nicht der Daddy von der 6-Jährigen ist, sondern ihr Großvater, aber das spielt keine Rolle, seine Tochter war selbst ein Kind, als das Kind geboren wurde. Morgen also der Tag der Einschulung, J. ist still unter der Decke und sucht eine Schulter zum Anlehnen, sie nimmt meine. Mitten in der Leichtigkeit der Nacht geht nun die Traurigkeit neben dem Mond auf, und die Sturheit des alten Mannes macht mich wütend. Irgendwo unter der griesgrämigen Miene verdörrt sein Herz, trunken gemacht von zu vielen Stunden beim Stammtisch, er bockt, blökt, beißt. Irgendwann, da kaufte er ein Kleid für die 6-Jährige, herrlich altmodisch, schrecklich verziert, aber er bezahlte mit Liebe, nicht mit Geld. „Das Kleid ist frisch gebügelt“, murmelt er, und J. antwortet: „Ich brauch morgen nicht das Kleid, ich brauche dich“, doch Daddy schweigt und streikt. „Wenn M. kommt, dann komme ich nicht“, sagt er störrisch und wischt seine Tochter von seinem Herzen. Zu viele Befindlichkeiten, zu viele Ichbezogenheiten, zu viele Vergangenheiten hindern den alten Mann daran, seine Enkelin an ihrem ersten Schultag zu begleiten. Der Neue seiner Exfrau kommt ja auch, deshalb geht er nicht hin, er erklärt es aber niemanden, auch nicht der 6-Jährigen, die heute strahlend ihre Schultüte in der Hand hielt und nach ihrem Großvater fragte, der vermutlich traurig war, irgendwoanders, mit einem Glas in der Hand und Eiswürfeln unter der Haut. Der erste Abend bei J. fühlt sich an wie eine Klassenfahrt auf Speed in den Osten, obwohl man sich im Westen trifft, wo auch eine Mauer steht, die weg muss.

Nellas Niemandsland

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